Herr
Das Tschernobyl-Syndrom

25.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:54 Uhr

Ingolstadt (DK) Der Volkswirtschaftler Alexander Danzer hat die Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl vor 30 Jahren untersucht und sich dabei vor allem auf die wirtschaftlichen Langzeitfolgen konzentriert. Im Interview spricht er über die finanziellen Folgen für die Ukraine und welche Schlussfolgerungen man aus der Katastrophe ziehen kann.

Herr Danzer, wer an Tschernobyl denkt, denkt in erster Linie an die strahlenden Hinterlassenschaften. Sie haben die Langzeitfolgen für die Gesellschaft in der Ukraine unter die Lupe genommen.

Alexander Danzer: Natürlich hat die Katastrophe bis heute direkte finanzielle Folgen für die Ukraine. Seit 1986 hat das Land jedes Jahr zwischen fünf bis sieben Prozent seines Bruttosozialproduktes aufgewandt, um das zerstörte Kraftwerk und die unmittelbare Umgebung zu sichern und den betroffenen Menschen Ausgleichszahlungen zukommen zu lassen.

 

Wie Sie herausgefunden haben, sind diese finanziellen Folgen aber nur ein Teil der Hinterlassenschaft, unter denen die Menschen zu leiden haben.

Danzer: Beim Kontakt mit Ukrainern haben wir festgestellt, dass etwas mit der Lebenszufriedenheit dort nicht passt. Sie ist spürbar geringer als in anderen vergleichbaren Ländern. Ob etwas im Alltag nicht passt, ob es Probleme mit staatlichen Stellen oder beim Hausbau gibt - für alles machen viele Ukrainer die Katastrophe von Tschernobyl verantwortlich.

 

Aber es gibt doch messbare gesundheitliche Schäden.

Danzer: Natürlich. Aber das Interessante ist, dass uns die Ärzte gesagt haben, dass Menschen unter unerklärlichen Symptomen litten, bei denen eben gerade keine typischen Folgen von Strahlenbelastung diagnostiziert wurden. Die Ärzte sprechen vom Tschernobyl-Syndrom. Die Menschen sind mental krank. Also haben wir eine Langzeitbefragung untersucht und festgestellt, dass die Lebenszufriedenheit auch bei denen, die nicht direkt betroffen sind, deutlich unter den üblichen Werten liegt.

 

Sie sind Volkswirtschaftler, deshalb gehe ich davon aus, dass Sie das eigentlich nicht Messbare messbar gemacht haben.

Danzer: Direkt messen lässt sich das nicht. Wir haben ermittelt, dass die Regierung in Kiew bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufwenden müsste, um den Menschen Lebensumstände zu ermöglichen, die ihre Zufriedenheit auf das Niveau ohne die Katastrophe heben würde.

 

Was können wir aus Ihren Untersuchungen lernen?

Danzer: Wir sehen, welche langfristigen Auswirkungen eine solche Katastrophe hat: Auch 30 Jahre nach dem GAU sind sie für die Ukraine nicht geringer geworden. Und sie werden die Zukunftschancen des Landes noch lange schmälern.

 

Welche Schlussfolgerungen sollten wir für den Umgang mit der Atomenergie ziehen?

Danzer: Wir müssen endlich eine ehrliche Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen. Denn bei allen Zahlenspielen, die es bisher gibt, sind die indirekten Folgen und Kosten eines Unfalls, wie etwa auf die mentale Gesundheit, nicht berücksichtigt. Wir müssen uns darüber klar werden, dass kein Unternehmen die finanziellen Folgen eines GAUs schultern kann. Das sehen wir auch in Fukushima. Da muss immer der Staat, sprich der Steuerzahler, einspringen.

 

Wollen Sie uns Angst machen?

Danzer: Darum geht es nicht. Zwar ist die Angst vor einem solchen Unglück eine der größten, die die Menschheit kennt. Aber die Diskussion darüber darf nicht den Umgang mit den Lasten der Atomenergie überlagern. Die Kosten sind nämlich tatsächlich viel höher als die, mit denen wir bisher kalkulieren. Natürlich ist Strom aus erneuerbaren Energien viel teurer als der aus einem abgeschriebenen Atomkraftwerk. Aber nur, weil die Risiken nicht enthalten sind. Wenn bei Ihnen auf dem Dach eine Solarzelle durchbrennt, ist das kein Problem - anders, als wenn ein Atomkraftwerk explodiert.

 

Das Interview führte

Christian Fahn.

Ein umfangreiches Online-Special zum Thema 30 Jahre Tschernobyl finden Sie unter http://story.donaukurier-digital.de/tschernobyl/