Bonn
Spannung bis zur letzten Sekunde

21.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:55 Uhr

Bonn (DK) 362 zu 279! Die SPD hat den Weg zu Verhandlungen mit der Union über eine neue große Koalition freigemacht. Eine Mehrheit von 362 der 642 Delegierten stimmten gestern nach einer zeitweise harten Debatte auf einem Sonderparteitag dafür.

Die Mehrheit für Koalitionsverhandlungen steht, die vorletzte Hürde zur Neuauflage der großen Koalition ist ausgeräumt. Spannung bis zur letzten Sekunde des Polit-Krimis. Kurz vor dem Schicksalsvotum auf dem SPD-Parteitag gestern in Bonn ergreift Parteichef Martin Schulz noch einmal das Wort: "Man muss nicht um jeden Preis regieren. Das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen!" Ein Nein der Delegierten hätte unweigerlich zu Neuwahlen geführt, warnt Schulz erneut. "Wenn wir etwas Gutes bewirken können für die Menschen in unserem Land, dann sollten wir es tun. Das ist der mutigere Weg." Als die Delegierten und Präsidiumsmitglieder um kurz nach 16 Uhr ihre Stimmkarten im World Conference Center hochhalten, ist zunächst nicht klar, wie die Mehrheit ausfällt. Um 16.27 Uhr verkündet Bundesjustizminister Heiko Maas das Resultat. 83 Stimmen mehr für das Ja-Lager. Martin Schulz strahlt, ist erleichtert.

Es ist das Ende eines gewaltigen Kraftaktes. Stundenlang flogen in Bonn die Fetzen, lieferten sich Groko-Gegner und -Befürworter einen harten Schlagabtausch. Am Ende rettet SPD-Chef Schulz seien Kopf - vorerst. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kann durchatmen. Die Reise Richtung Schwarz-Rot geht weiter, in dieser Woche sollen die Koalitionsverhandlungen starten. Ein erstes Treffen soll schon heute stattfinden, um organisatorische Fragen für die Verhandlungen zu klären und die Abläufe festzulegen. Die Bildung einer stabilen Regierung ist vier Monate nach der Bundestagswahl einen Riesenschritt näher gerückt.

Doch zuvor hieß es für die SPD-Spitze kämpfen. Eine knappe Stunde redet Schulz zu den Delegierten, gibt sich kämpferisch, wirkt jedoch müde und angeschlagen. Immer wieder scheint es, als rede er gegen eine eisige Wand. An den Balkon links von der Rednerbühne haben die Jusos ein "Nogroko"-Plakat gehängt, es verschwindet während Schulz' Rede.

Seinen Zickzackkurs rechtfertigt er durch die "neue Lage" nach dem Jamaika-Aus und zählt auf, was er in den Sondierungen heuausgehandelt hat: Verbesserungen bei der Rente, "ein völliger Aufbruch in der Bildungspolitik", das Pflegepaket, ein Ende der europäischen Sparpolitik. "Das sind spürbare Verbesserungen für Millionen von Menschen", ruft er. "Fahrlässig" wäre es, jetzt die Chance zum Regieren nicht zu ergreifen, sagt Schulz. Eine knappe Stunde Rede, eine knappe Minute spärlicher Applaus.

Massiv machen die Jusos und viele Parteilinke noch einmal mobil, wollen den Parteitag vom Nein zu vier weiteren Jahren an der Seite Merkels überzeugen. Juso-Chef Kevin Kühnert wird gefeiert wie ein Popstar, wirft Schulz und der Führungsriege, die geschlossen für Schwarz-Rot wirbt, vor, Angst vor Neuwahlen zu schüren. "Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können", ruft er seinen Leitspruch ins Plenum, spielt damit auf CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt an, der sich über den "Zwergenaufstand" des SPD-Nachwuchses mokiert hatte - und wird dafür gefeiert.

Quo vadis SPD? "Wir gehen aus jeder großen Koalition schwächer heraus", sagt Hilde Mattheis von der Parteilinken. "Wir werden weiter abgeschliffen, hangeln uns von Kompromiss zu Kompromiss", malt sie das Groko-Szenario schwarz. Sie beschwört eine "Mehrheit im Land, die mehr Gerechtigkeit will, und deshalb sage ich No Groko".

Hin und her wogt es in der Halle, stundenlang ringt die Partei mit sich selbst, die Rednerbeiträge deuten auf ein Unentschieden hin. Kommt doch das Aus für Schwarz-Rot, platzt nach Jamaika auch der zweite Anlauf zur Regierungsbildung? Das würde nicht nur zum politischen Beben in Berlin führen, das würde die SPD endgültig vor die Zerreißprobe stellen, Schulz und der Vorstand wären blamiert bis auf die Knochen.

Fraktionschefin Andrea Nahles stemmt sich mit aller Kraft dagegen. Wenn die SPD trotz der Sondierungserfolge nicht mitregieren wolle, und sie das den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkampf erzählen müsse, "dann zeigen die uns doch den Vogel", ruft sie mit sich überschlagender Reibeisenstimme. "Wir werden verhandeln, bis es quietscht", verspricht sie, es werde weitere "gute Sachen" geben. "Dafür lohnt es sich, heute mit Ja zu stimmen." Jubel für Nahles am Ende, die wie die heimliche Parteivorsitzende wirkt.

Am Ende das Ja zu Koalitionsverhandlungen, aber die Zustimmung wird in Bonn an neue Voraussetzungen geknüpft, die Latte für Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer hochgehängt. Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung bei Neueinstellungen, gleiche Arzthonorare für die Behandlung von Privat- und Kassenpatienten und vor allem eine "weitergehende Härtefallregelung" für den Familiennachzug befristet geschützter Flüchtlinge: All das sollen Schulz und sein Verhandlungsteam noch herausholen - so steht es im Antrag, der gestern verabschiedet wird. Zwar keine knallharten Bedingungen, aber der Auftrag: Hier müssen konkrete wirksame Verbesserungen erzielt werden. Das ist die Brücke, die Schulz den Groko-Gegnern bauen musste.