Berlin
Zwischen Macht und Selbstfindung

Die SPD wählt heute eine neue Führungsmannschaft und debattiert über Sondierungen mit der Union

06.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:06 Uhr

Berlin (DK) "Die SPD kann stolz sein auf das, was sie in dieser Regierung geleistet hat." Parteichef Martin Schulz überrascht gestern mit einer positiven Bilanz seiner Genossen in der großen Koalition. Er will seinen Leuten Mut machen für die schwierigen Gespräche mit der Union über eine Neuauflage von Schwarz-Rot.

Beim Rundgang durch den "City Cube" auf dem Berliner Messegeländer läuft er sich am frühen Abend warm für den heutigen Showdown beim Bundesparteitag. Es geht um alles oder nichts: Bekommt Schulz von den 600 Delegierten grünes Licht für "ergebnisoffene" Sondierungen mit Kanzlerin Angela Merkel und der Union? Oder lehnt der Parteitag ab, was Schulz wohl auch von der SPD-Spitze hinwegfegen würde?

Schafft es der SPD-Chef nicht, die Genossen hinter sich zu bringen, stehen die Zeichen womöglich auf Neuwahlen. Die SPD steht vor der Zerreißprobe, drei Lager ringen um die richtige Richtung. Am drastischsten brachte der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow vom linken Flügel die Position der "GroKo"-Gegner auf den Punkt: "Die SPD könnte damit ihr Überleben aufs Spiel setzen."

Erteilt der Parteitag seinen Segen für Sondierungen, ist der Weg aber noch nicht frei für die Neuauflage von Schwarz-Rot: Auch Spitzen-Genossen sehen die bessere Alternative in einer Minderheitsregierung oder einer "Koalition light". Der Plan: Ein Bündnis aus Union und SPD verständigt sich auf Kernanliegen vom Haushalt bis zu Europafragen. Für die meisten Gesetzesinitiativen würde es aber keine Festlegung geben, die Kanzlerin müsste sich wechselnde Mehrheiten suchen. "Eine Minderheitsregierung könnte sogar stabiler sein als eine nur widerwillig eingegangene Koalition", machte sich die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer zur Wortführerin des Mittelweges zwischen großer Koalition und unsicheren Neuwahlen.

Das dritte Lager hält auch den Mittelweg für einen Holzweg, sieht nur in einer großen Koalition die Möglichkeit zu einer stabilen Regierung und die SPD in der Pflicht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Der konservative Seeheimer Kreis geht gestern in die Offensive: Spätestens das Scheitern der Jamaika-Sondierungen habe gezeigt, "dass wir bei aller Beschäftigung mit uns selbst nicht in Oppositionsromantik verfallen dürfen", schrieben die Seeheimer in einem Thesenpapier. Dahinter steht auch Parteischwergewicht Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen. Sein Credo lautet: Die Partei könne mit klarer Kante in einer großen Koalition mehr für die Menschen im Land tun als in der Opposition oder in einer Minderheitsregierung.

So sieht es auch Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Die Frage einer erneuten Regierungsbeteiligung sei "für die Frage des Überlebens der Sozialdemokratie in diesem Land relativ egal", erklärt er die Existenzangst der Genossen für den Fall von Schwarz-Rot für völlig übertrieben. Die "GroKo" sei auch nicht verantwortlich für die Schlappe der SPD bei der Bundestagswahl, versetzt der ehemalige Parteichef dem aktuellen einen Leberhaken.

In der Debatte über den Kurs wird es heute heiß hergehen, erst am frühen Abend wird über Sondierungen abgestimmt. Das Kalkül der Parteistrategen: Die "GroKo"-Gegner werden sich in der Diskussion abreagieren und nach dem Votum darauf verzichten, Zorn und Unmut noch an Martin Schulz auszulassen. Deswegen wurde seine Wiederwahl erst für den späteren Abend auf die Agenda gesetzt. Ob das Kalkül aufgeht oder Schulz doch zur Zielscheibe wird, weil er seine Absage kassierte, ist offen. 100 Prozent wie im vergangenen März wird er nicht erhalten, so viel steht fest.