Herr
"Wir brauchen neue Lösungen"

26.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:52 Uhr

Berlin (DK) Der Rentenexperte Bert Rürup spricht im Interview über die Zukunft der Altersversorgung in Deutschland.

Herr Rürup, wer heute Mitte 40 ist, hat ein erhöhtes Risiko, im Alter arm zu sein, so das Ergebnis einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung. Sind die Warnungen berechtigt?

Bert Rürup: Unter zukünftigen Rentnern wird sich das Armutsrisiko bis Mitte der 2030er-Jahre erhöhen. Am stärksten gefährdet sind Selbstständige, Personen mit gebrochenen Erwerbsbiografien, Frauen, die länger in Teilzeit gearbeitet haben, Langzeitarbeitslose, Arbeitnehmer und vor allem Arbeitnehmerinnen, die lange Zeit im Niedriglohnsektor beschäftigt waren.

 

Viele glauben, ein höheres Rentenniveau würde gegen Altersarmut helfen . . .

Rürup: Wir haben gegenwärtig etwa 530 000 Menschen, die auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Ein Viertel davon hat keinerlei Rentenansprüche, 40 Prozent beziehen eine Rente unter 400 Euro monatlich. Selbst eine Heraufsetzung des Rentenniveaus auf 60 Prozent würde diesen Personen nicht aus der Altersarmut helfen. Von einer Anhebung des Rentenniveaus profitieren vor allem diejenigen, die lange gearbeitet und gut verdient haben. Im Übrigen: Das Niveau anzuheben ist ziemlich teuer. Ein Prozentpunkt mehr beim Rentenniveau kostet etwa sechs Milliarden Euro pro Jahr.

 

Wie kann denjenigen gezielt geholfen werden, die am stärksten von Altersarmut betroffen sind?

Rürup: Die Verhinderung von Altersarmut ist meines Erachtens vorrangig eine Aufgabe des staatlichen Systems. Private oder betriebliche Zusatzvorsorge ist in Deutschland freiwillig und soll in erster Linie die gesetzliche Rente aufstocken, aber nicht Altersarmut vermeiden. Unsere gesetzliche Rentenversicherung wurde vor 70 Jahren konzipiert. Damals war dauerhafte Vollzeitbeschäftigung die Regel, es gab eine geringere Lohnspreizung, Langzeitarbeitslosigkeit war quasi vergessen, und man konnte sich nicht vorstellen, dass es einmal Rentenprobleme geben würde, weil zu wenige Kinder geboren werden. Heute hat sich die Lage verändert. Es wurde aus beschäftigungspolitischen Gründen ein großer Niedriglohnsektor geschaffen. Viele Menschen, vor allem Frauen, arbeiten heute in Teilzeitjobs, und eine große Zahl Erwerbstätiger pendelt zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung. Auf einem solchen post-industriellen Arbeitsmarkt ist unser System noch nicht eingerichtet. Deshalb brauchen wir neue Lösungen, um Altersarmut nach Möglichkeit zu verhindern, auf jeden Fall aber deutlich zu reduzieren.

 

Was schlagen Sie konkret vor?

Rürup: Ein rentenpolitischer Ansatz, um das Armutsrisiko von langjährig im Niedriglohnsektor Beschäftigten zu reduzieren, wäre die Solidarrente von Andrea Nahles oder deren etwas halbherzigerer Vorläufer, die Lebensleistungsrente von Ursula von der Leyen. Das Prinzip besteht darin, dass, wer viele Jahre im Arbeitsleben bemüht war, nicht hilfsbedürftig zu sein, im Alter nicht auf die staatliche Fürsorge angewiesen sein sollte. Für Erwerbstätige sollte es eine Rente oberhalb des Niveaus der Grundsicherung geben.

 

Wie groß ist die Vorsorgelücke bei Selbstständigen?

Rürup: Die zu den Freiberuflern gehörenden Selbstständigen sind über die berufsständigen Versorgungswerke recht gut abgesichert. Für diejenigen, die nicht einem solchen System angehören, sollte die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Pflicht werden, um ungedeckte Schutzbedürfnisse abzusichern.

 

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) fordert eine längere Lebensarbeitszeit, will über die Rente mit 67 hinausgehen. Halten Sie das - irgendwann - für unvermeidlich?

Rürup: Unvermeidlich ist nichts. Das Rentensystem ist keine Kuh, die im Himmel frisst und auf der Erde gemolken werden kann. Die Kosten der Bevölkerungsalterung kann man nicht wegreformieren. Man kann nur versuchen, sie ausgewogen auf die Erwerbstätigen, die Rentenempfänger und die Steuerzahler zu verteilen. Dazu gibt es vier Möglichkeiten: ein höherer Beitragssatz, mehr Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt, ein geringeres Rentenniveau und das Heraufsetzen der Altersgrenze. Jede Rentenreform ist daher ein Verteilungskompromiss, und kein Ökonom der Welt kann sagen, was im konkreten Fall die beste Lösung ist. Bis Ende des nächsten Jahrzehnts wird die Rente mit 67 eingeführt. Vor Mitte der 2020er-Jahre muss keine Entscheidung über eine weitere Anhebung gefällt werden. Heute sind das Debatten zur Unzeit.

 

Der Wirtschaftswissenschaftler und Rentenexperte Bert Rürup war bis 2003 Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die Fragen stellte Rasmus Buchsteiner. Foto: Dedert/dpa