Berlin
Männlich, weiblich oder divers

Bundesverfassungsgericht stärkt Rechte intersexueller Menschen

08.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:14 Uhr

Berlin (DK) "Eine kleine Revolution" sei der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, sagte Vanja (27 Jahre) gestern. Karlsruhe habe deutlich gemacht, "dass es Menschen gibt, die nicht als Mann oder Frau leben, und dass das keine ,Störung' ist". Vanja ist intersexuell und hat ein wegweisendes Urteil erkämpft, spricht im Anschluss von einer "großen Freude". Denn künftig wird es im Geburtenregister neben "weiblich" und "männlich" ein drittes Geschlecht für die rund 80 000 Menschen in Deutschland geben, die wie Vanja mit einem atypischen Chromosomensatz zur Welt gekommen sind. Sie könnten nun bald "divers" oder "inter" eintragen. Womöglich wird der Geschlechtseintrag aber auch ganz gestrichen.

Die Richter gaben der künftigen Regierung bis Ende kommenden Jahres Zeit für ein neues Gesetz. Kommt es zur großen Reform, gelingt der große Wurf gegen die Diskriminierung? Nach dem Richterspruch wird der Ruf nach weitergehenden Konsequenzen laut. "Wir brauchen ein klares Diskriminierungsverbot mit Blick auf alles, was geschlechtliche Vielfalt ausmacht", sagte Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) gestern im Gespräch mit unserer Berliner Redaktion.

Über ein "historisches Urteil" jubelt Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Sie sieht endlich eine Anerkennung des jahrzehntelangen Kampfes intergeschlechtlicher Menschen für Selbstbestimmung und verlangt von den Jamaika-Sondierern ein modernes Geschlechts-Identitätsgesetz. "Das Urteil ist ein großer Fortschritt in Richtung Freiheit", sagt Grünen-Bundestagsfraktionschef und Jamaika-Unterhändler Anton Hofreiter. "Da kann man einfach nur dankbar sein, dass wir in dem Punkt ein so progressives und modernes Bundesverfassungsgericht haben."

Ein drittes Geschlecht, weder Mann noch Frau im Personenregister - ist Karlsruhe zu weit vorgeprescht? Die Union hatte in der großen Koalition Versuche der SPD konsequent abgeblockt, für Anerkennung der geschlechtlichen Vielfalt zu sorgen. Offene Kritik am Karlsruher Urteil ist zunächst nicht zu vernehmen. Und die katholische Kirche zeigt Verständnis: "Wenn bei einem Menschen eine eindeutige Zuordnung als Frau oder Mann nicht möglich ist, darf er nicht durch rechtliche Vorschriften oder gesellschaftliche Gewohnheiten dazu gezwungen werden, sich entgegen seinen eigenen Empfindungen einem Geschlecht zuzuordnen, das nicht zu ihm passt", sagte Matthias Kopp, Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, gestern im Gespräch mit unserer Berliner Redaktion. "Gegenüber dem vollständigen Verzicht auf eine Selbstaussage über das Geschlecht ist es dann besser, eine positive Zuordnung zu wählen." Daher sei der Karlsruher Richterspruch "nachvollziehbar".

Vanja fand es diskriminierend, dass Eltern ihr Kind nur als Mädchen oder Jungen ins Personenregister eintragen können, und zog vor Gericht. Nach dem Scheitern beim Amtsgericht Hannover und dem Bundesgerichtshof erhält sie in höchster Instanz recht. Seit 2013 können Eltern zwar den Eintrag im Geburtenregister offenlassen. Doch reichte das den Karlsruher Richtern nicht: Betroffene müssten sich keinesfalls als "geschlechtslos" begreifen. "Der Personenstand ist keine Marginalie", heißt es in der Urteilsbegründung. "Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu."

Wie geht es nun weiter? Das Bundesinnenministerium kündigte an, nach dem Urteil rasch eine Reform auf den Weg zu bringen - allerdings muss dafür erst eine neue Regierung gebildet werden. Familienministerin Barley pochte im Gespräch mit unserer Berliner Redaktion auf weitergehende Konsequenzen: "In Deutschland muss endlich ein eindeutiges Verbot von irreversiblen medizinischen Maßnahmen an den Geschlechtsmerkmalen von noch nicht einwilligungsfähigen Kindern verankert werden", so die SPD-Politikerin. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte gibt es pro Jahr rund 1500 solcher Eingriffe.
 

Kommentar von Verena Belzer

Am Anfang sind wir alle Zwitter. Bis zur sechsten Schwangerschaftswoche trägt jeder Fötus Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach prägen die Gene ein männliches oder weibliches Wesen – zumindest in aller Regel. Bei manchen Menschen ist das nicht so, sie bezeichnet man deshalb als „intersexuell“. Nicht zu verwechseln sind Intersexuelle mit Transsexuellen, die sich im falschen Körper fühlen. Denn Hermaphroditen, wie man sie auch nennt, stecken – medizinisch erklärbar – in einem Körper, den man nicht nach dem gängigen Muster „weiblich“ oder „männlich“ definieren kann. Warum also sollte in ihrem Pass eine der beiden Varianten vermerkt werden? Weil es so besser in unser System passt? Weil wir uns Intersexualität nicht vorstellen können? Das kann kein Argument sein. Und eine Leerstelle im Pass ist wahrlich keine befriedigende Alternative. Wer bitte möchte gerne ein schwammiges „weder noch“ sein? Karlsruhe hat entschieden – und zwar richtig. Laut Grundgesetz muss jeder gleich behandelt werden, niemand darf diskriminiert werden. Und es wird niemand benachteiligt, wenn ein intersexueller Mensch das Recht bekommt, eine dritte Option anzukreuzen.