Berlin
"Kinder brauchen faire Chancen"

Jürgen Heraeus, Chef von Unicef Deutschland, über Kinderrechte und Bildung

19.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:28 Uhr

Berlin (DK) Heute ist Weltkindertag. Er wird in mehr als 145 Staaten weltweit begangen. An diesem Tag wird speziell auf die Bedürfnisse von Kindern aufmerksam gemacht - und die Wichtigkeit der Kinderrechte betont. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, setzt sich seit Jahrzehnten für diese Rechte ein. Jürgen Heraeus ist Vorsitzender von Unicef Deutschland. Im Interview mit unseren Berliner Korrespondenten macht er deutlich, dass auch in Deutschland noch viel für die Rechte von Kindern getan werden könnte.

Herr Heraeus, Unicef wirbt seit Langem für die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz. Wie würde sich unser Land damit verändern?

Jürgen Heraeus: Praktisch alle Parteien werben im laufenden Wahlkampf damit, dass sie sich für Kinder einsetzen. Gleichzeitig wissen sie ganz genau, dass nur noch 16 Prozent der Wähler in Deutschland unter 30 Jahre alt sind und die Älteren die Wahl entscheiden. Auch deshalb werden nach dem Wahltag die Interessen von Kindern so schnell wieder nachrangig behandelt. Wenn die Kinderrechte ins Grundgesetz kämen, ginge das nicht mehr so einfach. Politik, Verwaltungen oder Gerichte müssten viel stärker berücksichtigen, was ihre Entscheidungen für die Jüngsten bedeuten.

 

Machen Sie es doch bitte konkreter: Wo besteht in den deutschen Kommunen aus Ihrer Sicht der größte Handlungsbedarf in Sachen Kinderfreundlichkeit? Wie ernst sind die Probleme wirklich?

Heraeus: Wir müssen in Deutschland darauf achten, dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen nicht dauerhaft abgehängt wird. In einigen Städten - zum Beispiel im Ruhrgebiet oder in Berlin - wachsen inzwischen 30 bis 35 Prozent der Kinder in einem Haushalt auf, der von Hartz IV leben muss. Diese Kinder brauchen faire Chancen und müssen die Erfahrung machen, dass sie gebraucht werden. Gerade in den problematischsten Stadtteilen sollte es besonders gute Schulen geben. Handlungsbedarf gibt es in vielen Kommunen auch bei der personellen Ausstattung der Jugendhilfe. Saubere Luft, sichere Straßen und ausreichende Spielmöglichkeiten sind längst nicht überall selbstverständlich. Immer noch kennen viele Kinder in Deutschland ihre Rechte nicht.

 

Bildung - ein weiteres Thema im Wahlkampf. Wie groß sind die Aufgaben, die gelöst werden müssen?

Heraeus: Noch nie haben so viele Kinder einen Kindergarten besucht wie heute. Aber fragen sie einmal junge Eltern, wie schwer es ist, für kleine Kinder einen Platz zu finden. Auch die Qualität der Kindergärten ist sehr unterschiedlich. Dabei ist frühkindliche Bildung mehr als Betreuung. Der Bedarf an qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern ist enorm. Ähnlich ist es mit den Schulen. Niemand weiß genau, wie viele Heizungen in deutschen Schulgebäuden nicht richtig funktionieren, wie viele Klassenräume und Turnhallen in schlechtem Zustand sind. Bund, Länder und Gemeinden müssen hier über den Schatten des Föderalismus springen und viel enger zusammenarbeiten und Verfahren beschleunigen.

 

Die Kinderarmut in Deutschland ist zuletzt wieder gestiegen. Worauf führen Sie die Entwicklung zurück - und wie lässt sich gegensteuern?

Heraeus: Kinderarmut hat in Deutschland vor allem zwei Ursachen: Wenn Eltern lange Zeit arbeitslos sind und wenn - vor allem Mütter - ihre Kinder allein großziehen und dabei nicht ausreichend unterstützt werden. Hinzu kommt, dass seit 2015 rund 300.000 Flüchtlingskinder kamen, deren Eltern erst nach und nach Fuß fassen. Diesen Kindern Chancen auf Bildung und Teilhabe zu eröffnen ist eine ganz wichtige Investition in die Zukunft unserer ganzen Gesellschaft.

 

Wie lässt sich die Lage von Flüchtlingskindern verbessern?

Heraeus: Kindergärten und Schulen sind die wichtigsten Orte für Flüchtlingskinder, um anzukommen und sich in ihrer neuen, noch fremden Umgebung zu stabilisieren. Gerade wenn sie noch in Gemeinschaftsunterkünften leben, sind diese Orte die Brücke zur deutschen Sprache und Kultur.

 

Das Interview führte Rasmus Buchsteiner.