Berlin
"Es gibt gezielte Attacken auf Schulen"

Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider über Fassbombenangriffe in Syrien, das Leid der Kinder und die Friedensgespräche

23.12.2015 | Stand 02.12.2020, 20:23 Uhr

Berlin (DK) Wenn die Lage in Syrien sich nicht ändert, werden im kommenden Jahr Millionen Syrer fliehen müssen, sagt Christian Schneider (Foto), Geschäftsführer von Unicef Deutschland.

 

Herr Schneider, während wir Weihnachten feiern, tobt in Syrien weiter der Krieg: Wie stellt sich die Lage aktuell dar?

Christian Schneider: Es ist schwer, angemessene Worte für das Leid zu finden. Der Weltsicherheitsrat der UN hat festgestellt, dass Syrien jeden Tag tiefer und tiefer in Gewalt und Brutalität versinkt. Es gibt im ganzen Land keinen sicheren Ort mehr. Alle Kriegsparteien schrecken nicht vor Gewalt gegen Zivilisten und Kinder zurück. Hier geht es um schwere Kriegsverbrechen, um Vergewaltigung, Vertreibung, um Massaker und den Einsatz von Fassbomben. Die Menschen in Syrien haben weiter ein enormes Beharrungsvermögen. Aber sie erleben auch, wie der letzte Rest an Infrastruktur zerstört wird, die Versorgung allmählich zusammenbricht.

 

Wo wird das besonders deutlich?

Schneider: Ein Beispiel ist Aleppo. Da versucht Unicef, die Trinkwasserversorgung aufrechtzuerhalten und Wasserwerke und Leitungen zu reparieren. Auf diese Infrastruktur gibt es immer wieder Angriffe. Es gibt auch gezielte Attacken auf Schulen. Das ist nicht nur unmenschlich. Die permanente Bedrohung führt auch dazu, dass sich immer mehr Syrer gezwungen sehen, mit ihren Familien das Land zu verlassen.

 

Wie stark leiden die Kinder unter dem Krieg?

Schneider: Ein Großteil der syrischen Kinder hat sein Zuhause verloren. Rund sieben Millionen Syrer sind im eigenen Land auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder. Sie fliehen auf der Suche nach Sicherheit von Ort zu Ort. Viele Kinder gehen nun schon im fünften Jahr nicht mehr zur Schule, leben in Unsicherheit und Angst.

 

Verschärfen die internationalen Bombenangriffe die Situation noch zusätzlich?

Schneider: Wir haben bislang keine Dokumentation darüber, ob und in welchem Maße diese Angriffe die Zivilbevölkerung zusätzlich treffen. Schlimmer könnte die Lage ohnehin kaum sein. Es gibt keine Region Syriens, in der die Bevölkerung vor Bomben oder Scharfschützen sicher wäre. Wir haben die vorsichtige Hoffnung, dass es Anfang Januar bei den Friedensgesprächen Fortschritte gibt.

 

Wie entwickelt sich die humanitäre Lage?

Schneider: Gut vier Millionen Syrer leben in Gebieten, die wegen des Krieges für humanitäre Hilfe nicht mehr oder nur schwer erreichbar sind. Aktuell leben mindestens 400 000 Menschen akut im Belagerungszustand, sind permanent in Lebensgefahr. Die Hilfsprogramme der UN für die Flüchtlinge und die Zivilbevölkerung in der Region sind aktuell nur zur Hälfte finanziert. Das führt dazu, dass Lebensmittelrationen gekürzt werden mussten und wir auch bei der Wasserversorgung über Tanklastwagen zu Abstrichen gezwungen sein könnten.

 

Wird der Flüchtlingsstrom aus Syrien und dem Irak 2016 unvermindert anhalten?

Schneider: Wenn sich die Lage nicht schneller verbessert, werden Millionen Syrer so verzweifelt sein, dass sie ihr Land verlassen. Wichtig ist auch, die Stabilität in den umliegenden Ländern – Türkei, Jordanien, Libanon und Nordirak – zu erhalten. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, dass jeder vierte Einwohner im Libanon ein Flüchtling ist.

 

Das Gespräch führte Rasmus Buchsteiner. Foto: Pilick/dpa