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"Die Schere öffnet sich weiter"

28.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:13 Uhr

Berlin (DK) DGB-Chef Hoffmann spricht im Interview über soziale Gerechtigkeit und den Bundestagswahlkampf.

Herr Hoffmann, der 1. Mai steht im Zeichen des nahenden Bundestagswahlkampfes. Werden die Gewerkschaften diesmal ein Signal für Rot-Rot-Grün setzen?

Reiner Hoffmann: Wir werden wie immer keinerlei Wahlempfehlungen geben. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften sind überparteilich. Wir werden aber sehr wohl deutlich machen, was wir inhaltlich von den Parteien erwarten.

 

Wäre Rot-Rot-Grün nicht die Konstellation, die am meisten von dem umsetzen würde, was auf den Wunschzetteln der Gewerkschaften steht?

Hoffmann: Bei Rot-Rot-Grün sehe ich noch jede Menge Widersprüche. Wir werden uns die Wahlprogramme sehr genau anschauen. Sich zum jetzigen Zeitpunkt auf eine Wunschkoalition festzulegen, wäre abenteuerlich.

 

Sie wollen sicherlich keine Neuauflage der großen Koalition, oder?

Hoffmann: Union und SPD haben seit 2013 viel gute Arbeit geleistet. Jetzt erleben wir, dass in der Koalition kaum noch etwas geht. So war im Koalitionsvertrag ein Rückkehrrecht von Teilzeit- in Vollzeitjobs vereinbart worden. Die Umsetzung wird jetzt auf Druck der Wirtschaft von der Union blockiert. Der neue Rechtsanspruch soll erst für Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten gelten. Das aber würde heißen, 70 Prozent der Beschäftigten vom Rückkehrrecht auszuschließen - vor allem Frauen, denn die arbeiten oft Teilzeit. Abgesehen davon erwarte ich eine Lösung zur Begrenzung von Managergehältern. Aber auch da geht es leider nicht voran.

 

Nicht in allen DGB-Gewerkschaften sieht man das genauso.

Hoffmann: Wir sind alle davon überzeugt, dass Managergehälter begrenzt werden müssen. Anders als die SPD, deren Bundestagsfraktion zum Thema einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, wollen wir, dass der Aufsichtsrat bei den Bezügen von Managern das letzte Wort hat, so, wie es der Koalitionsvertrag vorgesehen hat. Wenn die Hauptversammlung zu entscheiden hätte, würde der Bock zum Gärtner gemacht.

 

Bei VW hat der Aufsichtsrat die hohen Managergehälter festgelegt - teils mit Unterstützung von Gewerkschaftsvertretern.

Hoffmann: Woher wissen Sie, wie sich Gewerkschaften im Aufsichtsrat aufgestellt haben? Auskünfte darüber verbietet das Aktiengesetz. Klar ist: Das waren unglaubliche Exzesse. So etwas zerstört Vertrauen. Es gilt, in den Unternehmen zu einem vernünftigen Verhältnis zwischen Vorstandsgehältern einerseits und Stundenlohn andererseits zu kommen - und das muss der Aufsichtsrat festlegen.

 

Themenwechsel: Wie gehen die Gewerkschaften mit der AfD um?

Hoffmann: Die AfD ist nicht allein rassistisch und europafeindlich, sondern zutiefst gewerkschaftsfeindlich. Sie verspricht eine Politik für den kleinen Mann. Aber diese Partei wird niemals eine Interessenvertretung für die Arbeitnehmer in Deutschland sein können. Mal ist sie für, mal gegen den Mindestlohn. Das Renteneintrittsalter will die AfD abschaffen. Das sind extrem widersprüchliche und unsoziale Pläne. Allerdings müssen wir uns auch klarmachen, woher die guten Umfragewerte der AfD kommen. Trotz eines robusten Arbeitsmarkts gibt es viel Unzufriedenheit. Jeder Fünfte arbeitet im Niedriglohnsektor, verdient weniger als 9,60 Euro. Die Angst vor der Globalisierung und vor einem Aushöhlen des Wohlfahrtsversprechens der sozialen Marktwirtschaft ist groß. Daraus schlägt die AfD Kapital.

 

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Martin Schulz und die SPD im Augenblick in den Umfragen an Boden verlieren?

Hoffmann: Das ist ein völlig normaler Vorgang. Als er gekürt wurde, gab es in der Öffentlichkeit viel Unterstützung und Aufmerksamkeit. Jetzt wird Martin Schulz viel kritischer beleuchtet. Aber ich glaube, er wird sich besonders mit zwei Themen durchsetzen können. Soziale Gerechtigkeit hat er bereits oben auf der Tagesordnung platziert. Und er ist eben ein leidenschaftlicher Europäer. Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn schlecht geht.

 

Die wirtschaftliche Lage ist gut, viele Menschen zeigen sich zufrieden. Setzt die SPD mit soziale Gerechtigkeit nicht auf das falsche Thema?

Hoffmann: Das Gegenteil ist der Fall. Natürlich gibt es eine große Zufriedenheit und viel Zuversicht. Aber die Menschen haben ein feines Gespür, sie erkennen, dass die soziale Gerechtigkeit in den vergangenen Jahren unter die Räder gekommen ist. Es gibt immer noch mehr als eine Million Langzeitarbeitslose. 17,1 Prozent der jungen Menschen unter 35 sind befristet beschäftigt, sie haben keine Sicherheit. Und es ist keinesfalls ausgemacht, dass man im Alter eine auskömmliche Rente erhält. Die Schere zwischen kleinen und großen Einkommen und Vermögen öffnet sich weiter. Darauf muss reagiert werden.

 

Die SPD will Teile der Agenda-2010-Reformen zurückdrehen. Sägen wir da nicht an dem Ast, auf dem Deutschland sitzt?

Hoffmann: Das ist Unfug. Das gute wirtschaftliche Umfeld und die robuste Arbeitsmarktlage sind nicht das Ergebnis der Agenda 2010. Viele dieser Reformen haben nicht zu einer Steigerung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit beigetragen. Es waren die Gewerkschaften mit ihrer Tarifpolitik, Investitionen in Bildung, die Schwäche des Euro und niedrige Energiepreise, die zur Kehrtwende in Deutschland geführt haben.

 

Wird die Gefahr von Altersarmut kleingeredet oder überschätzt?

Hoffmann: Wer Altersarmut bekämpfen will, braucht einen umfassenden Ansatz. Wer sein Leben lang gearbeitet hat, in Vollzeit und über Jahre hinweg Beiträge gezahlt hat, muss am Ende eine gesetzliche Rente erhalten, die den Lebensstandard sichert. Das ist das zentrale Wohlfahrtsversprechen des Staats. Wird es nicht mehr erfüllt, wird die Akzeptanz unserer Sozialsysteme schwer beschädigt. Wir fordern, dass das Rentenniveau in einem ersten Schritt bei 48 Prozent stabilisiert und in einem weiteren Schritt auf etwa 50 Prozent angehoben wird.

 

Die Jüngeren heute müssten dafür deutlich mehr aufbringen. Ist das keine Überbelastung?

Hoffmann: Wir haben alles durchgerechnet. Es ist möglich, das Rentenniveau mit einem Beitragssatz von 22 Prozent zu stabilisieren. Daneben wäre noch ein Demografiezuschuss nötig, weil jetzt so viele Baby-Boomer in Rente gehen. Gleichzeitig müssen wir die Beitragszahler entlasten, indem wir zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung zurückkehren.

 

Die Fragen stellte

Rasmus Buchsteiner.