Berlin
Die Nacht der Entscheidung

Union, FDP und Grüne ringen um eine gemeinsame Basis für eine Jamaika-Koalition

16.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:12 Uhr

Berlin (DK) "Ich glaube, es kann gelingen", sagt Angela Merkel gestern früh draußen vor dem Portal der Parlamentarischen Gesellschaft und blickt ernst in die Kameras. Die Kanzlerin will Mut machen und appelliert noch einmal eindringlich an alle Seiten, sich zu bewegen, aufeinander zuzugehen. Natürlich gebe es "gravierende Unterschiede" zwischen Union, FDP und Grünen, sei es "eine schwierige Aufgabe, eine sehr komplizierte Aufgabe", aber der Wille sei da. Die Falten unter den Augen wirken tiefer als sonst. Merkel im Jamaika-Stress - die Spuren der nächtlichen Marathonsitzungen sind erkennbar.

Auftakt zur entscheidenden Runde der Sondierungsgespräche. Machen Union, FDP und Grüne den Weg in Richtung Jamaika-Koalitionsverhandlungen frei? Oder scheitert der Versuch? Im Lauf des Tages steigt die Zuversicht, wird Kompromissbereitschaft deutlich. Trotzdem wird es nochmals eine Nachtsitzung werden.

Wenn eine Einigung gelinge, "dann kann daraus etwas sehr Wichtiges für unser Land in einer Zeit großer Polarisierung entstehen", sagt die Kanzlerin beschwörend. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, sind es noch weitere Stunden harte Arbeit. Jetzt komme die "Phase der Selbstvergewisserung", weiß Merkel, jetzt werde geprüft, was wichtig ist und was vielleicht nicht so wichtig, um das Gesicht zu wahren und die eigene Partei mitzunehmen auf dem Weg nach Jamaika. Ein Hauch von Optimismus bei der Kanzlerin, aber auch die Sorge, dass es am Ende doch nichts werden könnte.

Die Zeit läuft ab. Vier Wochen und einen Tag haben sie verhandelt, hat sich scheinbar nicht viel bewegt. Jetzt muss es schnell gehen, sollen über Nacht auch die harten Knackpunkte wie Zuwanderung, Klimaschutz und Verkehr abgeräumt, ein gemeinsames Papier als Grundlage für Koalitionsverhandlungen beschlossen werden.

Am Abend ist noch kein weißer Rauch erkennbar. Drinnen im Palais gegenüber dem Reichstag wird am Verhandlungstisch um Kompromisse in großer Runde der mehr als 50 Unterhändler gekämpft und an Formulierungen gefeilt. Die wesentlichen Streitpunkte bleiben offen bis zum Schluss. Merkel habe die Dinge laufen lassen und so Druck machen wollen, um dann in der letzten Nacht mit Tauschgeschäften eine Einigung zu erzielen, heißt es. So wie sie es auch bei EU-Gipfeln gerne macht. Immerhin: Plötzlich gibt es keine Ultimaten mehr, ist nicht mehr von Neuwahlen die Rede und dringt kaum etwas aus den Verhandlungen nach draußen. Stattdessen appellieren alle Seiten an die Verantwortung und fordern zu Kompromissen auf.

"Wir gehen sehr zuversichtlich in diesen Donnerstag", gab sich FDP-Chef Christian Lindner gestern zum Auftakt auffallend optimistisch. Man benötige jetzt den "Geist von Problemlösungen und nicht den Geist von Gesichtswahrung". Er wünsche sich einen Erfolg, so der Liberale, und sprach von einem Tag, "an dem wir mit Mut und Tatkraft und neuem Denken beeindrucken können".

In der Nacht zuvor waren die Unterhändler einmal mehr ohne Einigung auseinandergegangen. Große Streitpunkte waren immer noch offen, Kompromisse, die bereits als fix galten, wurden wieder infrage gestellt. Fast alles sei wieder strittig, berichtete FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki und prognostizierte ein stürmisches Jamaika-Finale: "Ich würde sagen, es zieht gerade ein Hurrikan auf über Jamaika." FDP und Grüne brachten gar eine Verlängerung ins Spiel, wollten Druck aus der nächtlichen Runde nehmen.

Am Abend dann wird die Vorlage für einen möglichen Durchbruch bekannt: "Ergebnis der Sondierungsgespräche von CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen", so der nüchterne Titel des 61 Seiten starken Papiers, das den Weg zu einer Jamaika-Koalition ebnen soll. Doch bis zuletzt markieren in dem Entwurf der Jamaika-Partner zahlreiche eckige Klammern noch strittige offene Punkte.

Immerhin haben sich die Jamaikaner bereits auf eine Präambel verständigt, die sich wie die Einleitung eines schwarz-gelb-grünen Koalitionsvertrages liest. Dort heißt es etwa: "Uns eint die Verantwortung für die Menschen und die Zukunft unseres Landes." Doch von Einigkeit war am Verhandlungstisch gestern noch nicht viel zu spüren.