Riskantes Experiment

Kommentar

29.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:24 Uhr

Es war eine schwere Geburt. Vor neun Monaten stimmten die Briten für den Brexit, jetzt wurde die Austrittserklärung in Brüssel abgegeben. Die Hebamme Theresa May wird über die nächsten zwei Jahre versuchen, dem Brexit-Baby zu einem guten Start ins Leben zu verhelfen. "Nun, da der Prozess angefangen hat", rief die Premierministerin im Unterhaus, "ist es Zeit, dass wir zusammenstehen. Denn dieser große nationale Moment braucht eine große nationale Anstrengung."

Der Ruf nach nationaler Einheit mag nötig sein, ob er erfolgreich ist, darf bezweifelt werden. Tags zuvor hatte das schottische Parlament dafür gestimmt, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zu verlangen, weil der Brexit für Schottland, wo eine klare Mehrheit für den EU-Verbleib gestimmt hatte, unzumutbar wäre. Auch in Nordirland hat der Brexit für viel böses Blut gesorgt. Der republikanischen Sinn-Fein-Partei, die dagegen war, hat das Thema so viel Zulauf bei den Wahlen Anfang März beschert, dass auch in der Provinz jetzt diskutiert wird, ob man ein Referendum über die Ablösung vom Königreich und das Zusammengehen mit der Republik Irland abhalten sollte. In Wales hatten zwar die Brexit-Wähler überwogen, aber auch dort verlangt mittlerweile die Regionalregierung mehr Anschluss an Europa, als es die Premierministerin gestatten will.

Die Zentrifugalkräfte im Königreich sind entfesselt. Wenn alles schiefgeht, droht aus Großbritannien ein Klein-England zu werden. Der Grund für die Schieflage im Nationenverband Großbritanniens: England hört nicht auf die anderen. Premierministerin Theresa May strebt einen knallharten Brexit an, der darauf hinausläuft, dass Großbritannien weder Mitglied im Binnenmarkt noch in der Zollunion bleibt. Das ist dem Rest zu riskant, und daher werden die Rufe nach Unabhängigkeit laut.

Derweil ist das gesamte britische Volk immer noch zerrissen zwischen Brexit-Fans und Brexit-Gegnern. Die Gräben werden tiefer, weil sich die Torpfosten verschieben. Im Wahlkampf hatte das Brexit-Lager versprochen, dass man selbstverständlich weiterhin im Binnenmarkt bleibe. Nach der Wahl wurde das gestrichen und auch an einem Verbleib in der Zollunion nicht mehr festgehalten. Mittlerweile heißt es seitens der Premierministerin, dass "kein Deal besser wäre als ein schlechter Deal", soll heißen: Großbritannien könnte einen Außenhandel ansteuern, der allein nach Regeln der Welthandelsorganisation abläuft, was Zollschranken bedeutet. Das liefe tatsächlich auf ein abenteuerliches Experiment hinaus. Kamikaze-Brexit wird das mittlerweile genannt.

Der Grund, warum sich die britische Position sukzessive verhärtet hat: Theresa May ist eine Gefangene des rechten Flügels ihrer Partei. Rund 50 Abgeordnete zählt die Gruppe der Brexit-Ultras innerhalb der Fraktion der Konservativen. Aber sie haben überproportionalen Einfluss, weil May nur eine Arbeitsmehrheit von 17 Stimmen hat. Die Geschichte wiederholt sich. Schon John Major und David Cameron hatte der Euro-skeptische Flügel vor sich hertreiben können. Und wieder kommt dazu, dass eine konservative Presse Stimmung gegen die leiseste Brexit-Opposition macht.

Für die kommenden Verhandlungen ist das kein gutes Omen. Denn für die Brexit-Puristen ist Pragmatismus ein Schimpfwort. Ein Kompromiss mit der EU gilt in ihren Augen als Verrat am Volkswillen. Schon am Anfang der Verhandlungen kann es zum Eklat kommen, wenn Großbritannien rundweg jede Scheidungsrechnung ablehnt. Theresa May, die irrtümlich als starke Frau gesehen wird, müsste jetzt einfach einmal Mut beweisen und den Hardlinern in ihrer Partei Paroli bieten. Leider ist es wahrscheinlicher, dass sie das nicht tun wird.