Nicht heimisch geworden

Kommentar

19.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:37 Uhr

Das war ein ziemlich unfreundlicher Akt. Da tritt der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim in Deutschland auf und nutzt - man könnte auch sagen missbraucht - die in Deutschland hochgehaltene Meinungsfreiheit, um bei seinen hier lebenden Landsleuten für die faktische Abschaffung der Demokratie in der Türkei zu werben.

Kommt Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seinen Plänen durch, stimmen die Türken Mitte April in seinem Sinne ab - ganz wie es Yildirim in Oberhausen von seinen Landsleuten verlangt hat. Dann wird Erdogan praktisch zum Alleinherrscher, von der Volksvertretung in Ankara bleibt nicht mehr übrig, als eine pseudo-parlamentarische Kulisse.

Jeden überzeugten Demokraten muss also die nackte Wut bei einem solchen Auftritt überkommen. Doch es zeichnet den deutschen Rechtsstaat aus, dass er ihn aushält. Wohl niemand, der am Samstag in Oberhausen jubelte, musste von Yildirim bekehrt werden. Sie wussten auch so, was der Regierungschef aus Ankara ihnen zu erzählen hatte. Nämlich dass sie mit "evet" - mit Ja - stimmen sollen. Besorgniserregend ist jedoch, wie ausgeprägt die Verehrung für den Autokraten Erdogan bei so vielen Menschen ist, die seit etlichen Jahren in der Bundesrepublik leben, oder die sogar in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Das zeigt, dass bei der Integration vieler türkischen Gastarbeiter und vor allem ihrer Nachkommen etwas schiefgelaufen ist.

Warum sind gerade viele junge Menschen lieber stolze Türken, als sich in dem Land heimisch zu fühlen, in dem sie leben? Als ihre Vorfahren nach Deutschland kamen, ging die Politik davon aus, sie würden schon wieder gehen, wenn die Arbeit getan ist. Viele jedoch blieben, holten ihre Familien nach, bekamen Kinder und fühlten sich wohl. Allerdings sind bis heute noch längst nicht alle hier angekommen. Etliche haben sich heimatlos gefühlt. Bis Erdogan die rund 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Türken, die an türkischen Wahlen teilnehmen dürfen, für sich entdeckte und umarmte. Ihnen ihren Stolz zurückgab. Die Bundesrepublik sollte ihre Lehren daraus ziehen. Und die gemachten Fehler bei der Integration von Flüchtlingen nicht wiederholen.