Erdogans Faustpfand

Kommentar

16.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:48 Uhr

Steter Tropfen höhlt irgendwann doch den Stein. Selbst im so vertrackt wirkenden Fall von Deniz Yücel. Am Freitagvormittag konnte der Korrespondent der Zeitung "Die Welt" nach einem Jahr das Gefängnis in der Türkei verlassen.

Gewiss nicht, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan plötzlich ein nachsichtiger Mensch geworden ist und ein Faible für den Rechtsstaat entdeckt hat, den er spätestens seit dem Putschversuch im Sommer 2016 konsequent zerstört.

Aber auch wenn er es selbst niemals zugeben würde: Erdogan hat sich verhoben - wenigstens ein bisschen. Denn er hat unterschätzt, welche Bedeutung Yücel in den bilateralen Beziehungen bekommen könnte. Das ist vor allem all jenen zu verdanken, die immer wieder "Free Deniz" skandiert haben. Monatelang.

Für Erdogan war Yücel eine Geisel. Ein Faustpfand, um Deutschland unter Druck zu setzen. Doch Berlin reagierte nicht, wie er gedacht hatte, sondern nach langem Zögern mit unerwarteter Härte. Das eisige Verhältnis zwischen beiden Ländern wurde für die Türkei zu einem ernsthaften Problem. Und Yücel für den inzwischen nahezu alleinherrschenden Staatschef zu einer Belastung. Was auch immer Erdogan von Berlin wollte - ob es zum Beispiel um die EU ging oder um Rüstungslieferungen: Als Antwort bekam er stets einen Namen zu hören: Deniz Yücel. Ist nun also der Weg zur Normalisierung der Beziehungen frei? Vielleicht sind sie wenigstens nicht mehr so angespannt. Unbelastet ist das Verhältnis noch lange nicht.

Wichtig ist in diesen Tagen nur, dass Yücel endlich frei ist. Doch darf nicht vergessen werden, dass noch immer Tausende politische Häftlinge in den Gefängnissen der Türkei sitzen - viele wegen fadenscheiniger Vorwürfe. Darunter finden sich auch mehrere Deutsche sowie 157 Journalisten, sechs von ihnen sind gestern zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden.

Eine völlig unabhängige Justiz gibt es in der Türkei auch weiter nicht. Außerdem führt das Land in Syrien einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Kurden. Waffenlieferungen aus Deutschland oder eine Annäherung an die EU sind deshalb weiter unmöglich. Oder hat die Bundesregierung Erdogan doch etwas versprochen? Die Opposition wird nachfragen. Und inzwischen kann Chefdiplomat Sigmar Gabriel seinen Triumph feiern.