Der Sexsklaverei entkommen

07.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:20 Uhr

−Foto: Harald Rast

In Kalkuttas größtem Rotlichtviertel Sonagachi arbeiten mehr als 10 000 Prostituierte. Auch deren Töchter sind zu einem würdelosen Leben als Sexsklavinnen verdammt. Mit Spendengeld aus Bayern eröffnet die Augsburgerin Anja Fischer den jungen Inderinnen einen Ausweg.

Hätte die Hölle auf Erden einen Namen, sie könnte Sonagachi heißen. Die engen Gassen sind nur spärlich erleuchtet. Unzählige Frauen stehen herum, sie tragen bunte Saris, sind auffällig geschminkt. Ihre Augen sind leer. In den Gesichtern der Prostituierten spiegeln sich Angst und Ausweglosigkeit - und die Trauer über ihre verlorenen Leben. Denn sie sind brutaler Willkür ausgeliefert. Viele Männer gehen an den Frauen vorbei und mustern sie schamlos. Die jungen Inderinnen werfen ihnen auffordernde Blicke zu. Der Kampf um die Kunden wird in Kalkutta erbarmungslos geführt.

Auf Holzbänken und primitiven Plastikstühlen vor den Eingängen zu den Bordellen sitzen kräftige Männer. Sie reden lautstark in ihre Handys, unterhalten sich oder spielen Karten. Zu ihren Füßen lungern oft große, ungepflegte Straßenköter. Die Blicke der Männer wirken bedrohlich. Sie sind Zuhälter. Sie kontrollieren die Frauen, damit diese nicht davonlaufen und genug Kunden ins Haus bringen. Hier Fotos zu machen, ist nicht ratsam.

Was sich hinter den Mauern der heruntergekommenen Gebäude abspielt, lässt sich auch mit viel Fantasie nur erahnen: Demütigungen, Schläge, Vergewaltigungen, Krankheiten und rund um die Uhr käuflicher Sex. Die hygienischen Verhältnisse sind verheerend. Kaum eines der Häuser verfügt über einen Wasseranschluss, Toiletten sind weitgehend unbekannt. Es stinkt widerlich. Dennoch arbeiten hier auf wenigen Quadratkilometern in mehreren Hundert Bordellen über 10 000 Prostituierte. An den indischen Feiertagen ist der Andrang der Freier besonders groß. Dann bedient eine Frau bis zu 15 Männer. Sonagachi ist das größte Rotlichtviertel in Indien und wahrscheinlich in ganz Südostasien. An den Einfallstoren in das Stadtviertel halten im Sekundentakt knallgelbe Taxis. Unaufhörlich steigen Männer aus. Auf der Suche nach dem sexuellen Kick verschwinden sie im Labyrinth der Gassen. Dabei ist Prostitution in Indien eigentlich verboten, wird aber von den Behörden toleriert.

Doch sogar in der tiefsten Finsternis glimmt ein Licht der Hoffnung. Umzingelt von Bordellen, erklingt aus einem der Häuser fröhliches Kindergeschnatter. In einem winzigen Raum sitzen knapp 30 Mädchen und Buben dicht an dicht auf billigen Teppichen. Sie sind zwischen zwei und zwölf Jahren alt. Einige malen mit Buntstiften konzentriert in Hefte, andere lesen in Schulbüchern. Doch viele lassen angesichts des Besuches aus Deutschland ihrer Ausgelassenheit freien Lauf. Wie Kinder überall auf der Welt heischen sie mit Grimassen und Gesten um Aufmerksamkeit. Ihre braunen Augen leuchten, ihr Lächeln ist unwiderstehlich.

 

Diese winzige Oase der Fröhlichkeit ist das Werk von Anja Fischer und der von ihr unterstützten indischen Organisation "Women's Interlink Foundation" (WIF). Das Geld dafür kommt unter anderem aus Bayern. Nach ihrer ersten Indien-Reise hatte die Gymnasiallehrerin vor 20 Jahren gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde in Simbach am Inn das Projekt "Pradip" gegründet. Es ist nach einem Inder benannt, der an der Glasknochenkrankheit leidet. Spendengelder aus dem Freistaat ermöglichen dem schwerbehinderten Pradip seitdem eine menschenwürdige Existenz. Fast genauso lange gibt es die enge Kooperation zwischen "Pradip" und der Nichtregierungsorganisation WIF. Letztere wird von Aloka Mitra geleitet, einer ebenso eleganten wie resoluten Mittsiebzigerin, der man ihr Alter nicht ansieht. Aloka Mitra gehört Kalkuttas gehobenen Kreisen an, widmet ihr Leben aber der Hilfe für die Ärmsten. In Würdigung ihrer Verdienste wurde sie vor wenigen Wochen in London von Queen Elizabeth II. empfangen.

Alljährlich fliegt Anja Fischer auf eigene Kosten nach Kalkutta. Dem unbezwingbaren, allgegenwärtigen Elend begegnet die dynamische 43-Jährige mit nie versiegendem Optimismus. "Natürlich pflege ich eine Hassliebe zu Kalkutta", sagt die Augsburgerin lachend. Dennoch ist es bereits ihre 19. Reise in die Stadt. Fischer besucht alle von ihr unterstützten Projekte (siehe eigene Berichte), redet intensiv mit Sozialarbeitern, Lehrerinnen und den Kindern. Sie will sichergehen, dass jeder Euro an Spendengeld bei den Bedürftigen ankommt. Dafür begibt sich die zweifache Mutter sogar auf den nicht ungefährlichen Weg nach Sonagachi.

"Die Kinder kommen während der Arbeitszeiten ihrer Mütter zu uns", erläutert sie. Im Zentrum erhalten sie Unterricht, Hausaufgabenhilfe und medizinische Betreuung. Die Kinder bekommen eine Mahlzeit, Kleidung und genießen die Möglichkeit, während ihrer Freizeit in einem geschützten Raum zu spielen. "Manchmal machen wir sogar Ausflüge", sagt Anja Fischer. In dem Projekt arbeitet Maja Dutta bereits seit 16 Jahren als Lehrerin. "Jede Mutter möchte nun unbedingt, dass ihr Kind in unsere Schule geht", erzählt sie. "Das ist ihr einziger Ausweg aus Sonagachi", ergänzt Fischer.

Einmal im Monat findet ein Treffen mit den Müttern statt. Dabei werden die Frauen zum Beispiel über Hygiene, Gesundheitsvorsorge und HIV informiert. Doch die Aufklärungsarbeit ist mühsam und fruchtet nur langsam. Denn die meisten Freier wollen Sex ohne Kondom. Verweigert sich eine der Frauen, dann gehen die Männer weiter ins nächste Bordell. Der Wettbewerb zwischen den Sexarbeiterinnen ist ebenso groß wie ihre Angst vor den Zuhältern. Die Folgen des ungeschützten Sex sind verheerend. Mehr als fünf Prozent der Prostituierten sind HIV-positiv. Und natürlich gibt es zahllose ungewollte Schwangerschaften.

"Bereits ab dem Alter von acht Jahren strecken die Zuhälter und Madams ihre Fänge nach den Mädchen aus", weiß Anja Fischer. Denn eine minderjährige Jungfrau ist mindestens 100 000 indische Rupis wert, also etwa 1500 Euro. Für gewöhnlich kommt der menschliche Nachschub für Sonagachi aus Nepal, Bangladesch und Bhutan und natürlich den abgelegenen ländlichen Regionen Indiens. Die Mädchen werden mit dem Versprechen auf einen guten Job oder eine Hochzeit nach Kalkutta gelockt. Manche werden einfach verschleppt oder von ihren Eltern für weniger als umgerechnet 50 Euro an die skrupellosen Menschenhändler verkauft. Die Unglücklichen werden an die Madams, also die Bordellbesitzerinnen, weiterverschachert. "Dort sind sie dann viele Jahre gefangen", erklärt Anja Fischer.

Die Prostituierten in Sonagachi sind gezwungen, über Jahre den für sie entrichteten Kaufpreis abzuarbeiten. "Ein Freier zahlt für zwei Stunden vollen Service umgerechnet etwa vier Euro", weiß Nishi Kanta Nayak. Er ist als WIF-Sozialarbeiter in Kalkuttas Rotlichtbezirk unterwegs, kennt dort jeden Winkel. "Die Zuhälter streichen eine Provision ein." Den Großteil der Einnahmen würden die Madams kassieren. Meistens seien das Frauen, die früher selbst als Prostituierte gearbeitet hätten. Die weiblichen Neuankömmlinge würden von den Zuhältern mit roher Gewalt gebrochen und sich dann zumeist in ihr entsetzliches Schicksal als Sexsklavinnen fügen. "Eine Flucht ist fast unmöglich", bestätigt Nishi Kanta Nayak. "Die Zuhälter passen gut auf." Die sexuell ausgebeuteten Frauen altern rasch und verlieren für die Madams an Wert. Deshalb darf der Zustrom an jungen Frauen nach Sonagachi nicht versiegen. "Je älter die Sex-Workerinnen sind, desto billiger sind sie", sagt der Sozialarbeiter. Die Älteren dürften sich freier bewegen. Doch mangels Alternativen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bleibe ihnen nur die Prostitution.

Sogar in der Hölle gibt es positive Entwicklungen. Das Alter der Prostituierten steigt, früher wurden viele Minderjährige in die Sexsklaverei gepresst. "Die Frauen sind jetzt zumeist über 18 Jahre alt. Die Polizei kontrolliert schärfer, es gibt sogar Razzien in den Bordellen", berichtet Nishi Kanta Nayak. Viele minderjährige Mädchen seien befreit worden. Touristen trifft man in Sonagachi so gut wie keine an. Die Freier sind einheimische Taxi- und Lastwagenfahrer sowie Angestellte. Einen internationalen Sextourismus nach Kalkutta gibt es nicht.

Zu den Schwerpunkten von Anja Fischers Arbeit in Sonagachi gehört es, die Töchter der Prostituierten vor dem schlimmen Schicksal ihrer Mütter zu bewahren. Als Auffangort für die jungen Frauen betreibt sie mit der WIF das Refugium "Nijoloy" (siehe eigenen Bericht). Dort wurde auch Sanghita (Name geändert) gerettet. Als sie im Alter von etwa zwölf Jahren dort ankam, war sie völlig traumatisiert. Sechs Monate lang wollte sie nur schweigend spielen. Dann öffnete sie sich, erzählte ihre unendlich traurige Geschichte: Nach dem Tode beider Eltern war der ältere Bruder ihr einziger Beschützer. Doch dessen Ehefrau wollte die Kleine nicht im Haus haben. Das Kind wurde als Haushaltshilfe in eine andere Familie vermittelt. Als Sanghita es dort nicht mehr aushielt, flüchtete sie zurück zu ihrer einzigen Vertrauensperson, dem Bruder. Doch der verkaufte sie nach Sonagachi. Dort wurde sie geschlagen, eingesperrt, sexuell missbraucht. Schließlich griff die Polizei das Kind auf und übergab es der Obhut des WIF. Heute hat Sanghita einen Beruf und führt ein selbstbestimmtes Leben. Stolz sagt sie einen Satz, der Anja Fischer wieder einmal die Bedeutung ihrer Arbeit vor Augen führt: "Ich werde meinen Job nie aufgeben. Denn wenn man als Frau kein Geld hat, ist man hilflos." Sanghita will nie mehr zurück in die Hölle von Sonagachi.