Reiß-Interview

Attentat in Sarajevo löst den Ersten Weltkrieg aus

27.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:32 Uhr

Vor 100 Jahren löste ein Attentat in Sarajevo den Ersten Weltkrieg aus. Viele Länder und Regierungsformen von damals gibt es schon lange nicht mehr. Warum soll uns das Ganze heute noch interessieren?

Ansgar Reiß: Es gibt eine Reihe von Gründen. Erstens bestehen viele Probleme weiter. Wir haben das in den 1990er Jahren gesehen mit den neuerlichen Kriegen auf dem Balkan. Und wir sehen gerade jetzt eine Großmachtpolitik in Russland, das die Krim annektiert hat. Österreich hat in vergleichbarer Weise 1908 Bosnien annektiert. Das Gehabe der Großmächte gibt es also nach wie vor. Die Vorstellung, wir hätten diese alten Zeiten alle überwunden, ist eine naive Vorstellung. Die Welt steuert nicht unerbittlich auf Freiheit und Demokratie zu. Es gibt auch heute wieder eine Konjunktur von autoritären Regimen. Und wir sehen gleichzeitig Revolutionen im Gange, gerade im arabischen Raum – Revolutionen, die auch nicht immer zu Freiheit und Demokratie führen. Wir sehen neue Verwerfungen, wo alte diktatorische Regime in modernere Diktaturen übergehen. Es gibt also Dinge, die geblieben sind.

 

Blicken wir auf das Attentat in Sarajevo am 28. Juni 1914. Was für ein Wahnsinn. Der Wagen des österreichischen Thronfolgers kommt nach mehreren Zufällen direkt vor Gavrilo Princip zum Stehen. Der serbische Nationalist, der eigentlich schon unverrichteter Taten heimgehen wollte, feuert zwei Schüsse ab, Franz Ferdinand und seine Frau Sophie sterben. Diese Schüsse töten im Laufe der folgenden vier Jahre 17 Millionen Menschen. Kann Geschichte eigentlich noch erbarmungsloser sein?

Reiß: Die Geschichte ist hier wirklich erbarmungslos. Das Attentat war ja eigentlich zu dem Zeitpunkt schon gescheitert. Es war wirklich ein Zufall, dass der Chauffeur noch einmal diese Runde gefahren ist. Dass der später erfolgreiche Attentäter genau in dem Moment an diesem Platz stand, war in keiner Weise und von keiner Seite irgendwie berechenbar. An jenem 28. Juni 1914 haben wir – und darüber kann man letztlich nur philosophisch reden – das Eingreifen von Zufall oder Gottes Fügung in die Geschichte. Das war kein gesteuertes Ereignis! Aber das, was dann anläuft, war natürlich weit weniger zufällig. Es ist die Maschinerie von Diplomatie und Militärs. Es wird sehr schnell von Krieg gesprochen, auch von einem großen Krieg. Darauf lässt man sich ein. Man rechnet mit einem kleinen Krieg zwischen Österreich und Serbien. Man hält es für berechtigt, dass Österreich in Serbien einmarschiert. Aber man nimmt in Kauf, dass sich der Krieg auch ausweiten kann. Also: Die Maschinerie, die da anläuft, ist alles andere als zufällig, sondern tief verankert in der Kultur der Diplomatie dieser Zeit, tief verankert im Großmachtdenken dieser Zeit. Da kommt etwas in Gang, das sehr schnell keinen Ausweg mehr lässt.

 

Konjunktivkonstruktionen nach dem Muster „Was wäre, wenn“ sind wissenschaftlich fragwürdig, aber verlockend. Also: Wäre der Krieg auch ausgebrochen, wenn Princip vor 100 Jahren daneben geschossen hätte?

Reiß: Ich würde sagen nein. Die Geschichte ist offen. Das ist die Lehre aus der Geschichte: Sie kann immer auch anders laufen. Wir haben das erst 1989 wieder erfahren: Es passieren völlig überraschende Dinge.

 

Warum fallen 1914 wohlhabende, hochzivilisierte Staaten, die in kultureller Blüte stehen und untereinander rege Handel treiben, plötzlich mit brachialem Vernichtungswillen übereinander her? Wer waren die treibenden Kräfte? Hessische Bürokräfte hatten ja keine Gier darauf, bretonische Bauern zu ermorden – oder doch?

Reiß: Hatten sie nicht. Man muss unterscheiden zwischen dem Willen einerseits und den Mitteln andererseits. Wir erleben in den 50 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine dramatische Ausweitung der militärischen Mittel, der Zerstörungskraft. Es wird aufgerüstet. Jede Waffe, die denkbar ist, wird realisiert. Es werden größere Schiffe, stärkere Geschütze gebaut, neue Taktiken entwickelt – ein gewaltiger Fortschritt. Die Heere sind 1910 viel effizienter als 1860. Andererseits sind wir um 1900 in einer Epoche, die geprägt ist vom Ehrgeiz und der Eitelkeit großer Mächte und Nationen, die die Auffassung haben, jeder ist eigentlich der Gegner jedes anderen.

 

Brachiale Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung stellt man zu der Zeit also nicht in Frage?

Reiß: Brachiale Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung ist damals in einem ganz breiten Konsens akzeptiert. Wir erleben im 19. Jahrhundert die letzte expansive Phase Europas. Der Kontinent breitet sich mit dem Kolonialismus auf der ganzen Welt aus. Europa setzt sich nicht nur mit friedlichem Handel durch, sondern immer gleichzeitig durch militärische Macht. Europa ist aggressiv! Die Nationen sind nicht friedlich. Frieden prägt auch nicht die Vorstellung, sondern die sozialdarwinistische Vorstellung: Das Leben ist ein Kampf, und der Stärkere setzt sich durch. Das sind Grundzüge dieser Zeit. Es sind nur kleine Minderheiten, die sich dagegen äußern.

 

Da sind wir bei der Schuldfrage. Der australische Historiker Christopher Clark zeichnet in seinem Bestseller über die Juli-Krise 1914 ein Bild der europäischen Mächte, die wie „Schlafwandler“, so der Titel des Buches, gemeinsam in die Katastrophe taumeln. Der Historiker Sönke Neitzel erwidert, dass man eher von Zockern sprechen sollte, die hoch pokerten und völlig die Kontrolle verloren. Welche Metapher trifft es besser?

Reiß: Jeder handelt 1914 nach ähnlichen Prinzipien. Ich würde sagen: Schuldig sind die 250 Leute, die an der Spitze der beteiligten Staaten standen. Sie haben den Krieg vom Zaun gebrochen – und sie hatten keinen Willen zum Frieden.

 

Clark schreibt, dass die Frage der Kriegsschuld eine Tatwaffe voraussetze. Doch damals habe jeder Akteur eine Tatwaffe in der Hand gehalten. Daher sei der Kriegsausbruch kein Verbrechen, sondern eine Tragödie. Stimmen Sie dem zu?

Reiß: Dem stimme ich nicht zu. Es stellt sich immer die Frage der Schuldfähigkeit und der moralischen Bewertung. Man muss auch fragen: Wollen wir uns auf heutige Standards stellen oder im Normenrahmen des Jahres 1914 argumentieren? Im Normenrahmen des Jahres 1914 ist es nicht schlimm, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Unsere Norm des Friedens gilt für diese Zeit nicht. In seinem Horizont hat das europäische Führungspersonal vor 100 Jahren vermutlich verantwortungsbewusst gehandelt. Das ist die tragische Antwort, die man als Historiker geben muss.

 

Muss man bei der Diskussion um Clarks Buch nicht aufpassen, dass dessen Thesen missbraucht werden, die Schuld der Mittelmächte am Kriegsausbruch kleinzureden?

Reiß: Es gab in der deutschen Öffentlichkeit ein starkes Bedürfnis danach, ein Stück Schuld abzuschütteln. Dabei ist ganz klar, dass das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn an dem Ganzen massiv beteiligt waren! Aber wie will man Schuld gewichten? Will man sie in Prozentzahlen ausdrücken? Soll man sagen, die einen haben 60 Prozent Schuld und die anderen 40 Prozent? Deshalb ist diese Fragestellung schwierig. Aber es gibt die Gefahr zu sagen: Niemand ist schuld. Denn das stimmt nicht. Das Führungspersonal war schuld.

 

Schon wenige Monate nach dem Kriegsausbruch waren mehr als eine Million Soldaten tot. Wieso hat da keiner diesen Wahnsinn gestoppt? Warum gab es kein verantwortungsvolles Handeln „oben“ und nur wenig Verweigerungshaltung „unten“?

Reiß: Am Beginn steht eine Bereitschaft zu diesem Krieg, steht in manchen kleinen Segmenten der Gesellschaft sogar Euphorie. Es kommt aber sehr schnell zu einer massiven Ernüchterung. Man merkt, dieser Krieg ist wesentlich brutaler und dauert länger, als man gedacht hatte. Aber man tröstet sich darüber hinweg, indem man sagt: „Jetzt haben wir so viele Opfer gebracht – die dürfen nicht sinnlos gewesen sein! Deshalb müssen wir diesen Krieg gewinnen.“ Die Führungskräfte handeln hier im menschlichen Sinne verantwortungslos – das ist auch wieder eine moderne, humanistische Perspektive – weil sie bereit sind, eine große Zahl von Menschen einfach zu opfern. Aber das entspricht ihrer militärischen Kalkulation. Und von unten gesehen: Der einfache Mensch hatte kaum Möglichkeiten, sich zu weigern.

 

Bleiben wir beim einfachen Soldaten: Wenn heute Profifußballer zweimal die Woche 90 Minuten spielen müssen, haben sie die Grenze der Belastbarkeit erreicht, im normalen Arbeitsleben lauert schnell der Burn-out. Kann man überhaupt noch ermessen, was die Soldaten damals in ihrem von Tod, Leid, Trommelfeuer und Giftgas zersetztem Alltag erduldet haben?

Reiß: Wenn der Mensch im Krieg mit dem Überleben beschäftigt ist, kommen in ihm quasi animalische Triebkräfte und Energien zum Vorschein. Der Mensch ist unglaublich anpassungsfähig. Er kann unter den unmöglichsten Bedingungen leben. Das kann man erschreckend finden, aber es ist natürlich auch faszinierend. Viele Überlebenden der Weltkriege haben diese traumatischen Erfahrungen jedoch nicht verarbeitet. Sie sind psychisch verstümmelt heimgekehrt.

 

Wie haben diese individuellen Erfahrungen des Krieges das folgende Jahrhundert geprägt?

Reiß: Sie haben es ganz massiv geprägt. Die Arbeit an der Bewältigung des Krieges ist in Deutschland völlig schiefgegangen, denn man kehrt als Verlierer zurück, in eine ausgehungerte, heruntergekommene Heimat. Dann folgt die Inflation, die plötzliche Umwertung: Wer ein kleines Grundstück hat, ist der große Gewinner. Und wer einen Riesenbatzen Geld hatte, verliert alles. Die Gesellschaft wird hier noch einmal völlig durcheinandergestürzt.

 

Welche Lehren zogen die politisch Verantwortlichen aus dem Ersten Weltkrieg?

Reiß: Es hat der Weitblick gefehlt – nicht nur auf deutscher Seite, auch auf alliierter. Die Konstruktion des Versailler Friedensvertrags ist extrem problematisch, weil sie den Stachel der Niederlage perpetuiert, also auf Dauer gestellt hat. Das hatte fatale Folgen, vor allem eine extreme politische Instabilität in Deutschland. Man darf die großen Leistungen der Weimarer Republik auf keinen Fall unterschätzen – doch es ist wiederum schiefgegangen. Man hat sich in die Hände der Bauernfänger begeben. Aber das Scheitern war der Weimarer Republik nicht in die Wiege gelegt. Da kamen viele weitere Fehler und Schuldige dazu. Auch hier gilt: Die Geschichte ist offen.

 

Das Gespräch führten

Markus Schwarz und

Christian Silvester.