Vor
Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe

16.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:21 Uhr

Foto: DK

Vor einem Jahr, im Oktober 2016, verwüstete Hurrikan "Matthew" Haiti. Etwa 1000 Menschen starben, 2,1 Millionen wurden obdachlos. Sechs Jahre zuvor gab es bei einem der verheerendsten Erdbeben aller Zeiten 300 000 Todesopfer. Nun will Haiti mit internationaler Unterstützung verhindern, dass Naturkatastrophen im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre immer wieder zu humanitären Katastrophen führen.

Als "Irma" Kurs auf Haiti nahm, zog Fabien Legype sich mit seiner sechs Monate alten Tochter und seiner Frau in seine aus Holz, Lehm und Blech zusammengezimmerte Hütte zurück - und betete. Hier hatte er vor einem Jahr mit seiner damals noch schwangeren Frau Hurrikan "Matthew" überlebt, hier wollte er mit seiner Familie auch vor "Irma" Schutz suchen.

Im Radio und im Fernsehen hatten die Behörden Fabien und all diejenigen, die nicht in festen Häusern leben, zuvor aufgefordert, sich in sichere Gebäude wie Schulen zu begeben und den Sturm dort abzuwarten. Fabien hat weder ein Radio noch einen Fernseher, von den Sicherheitsvorkehrungen hatte er jedoch von Freunden gehört. Einen Schutzraum wollte er mit seiner Familie dennoch nicht aufsuchen. "Wir haben doch fast nichts! Und ich hatte Angst, dass Plünderer uns auch noch das letzte Bisschen wegnehmen", erzählt Legype.

Nachdem "Matthew" in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2016 über Haiti hinwegzogen war, waren über 1000 Menschen tot, 750 000 benötigten humanitäre Hilfe. Vor allem im Süden des Landes wurden Felder, Ernten und Häuser zerstört. Insgesamt waren 2,1 Millionen Menschen vom Sturm betroffen. Auch Fabien musste Freunde begraben.

Wäre auch "Irma" - wie zunächst befürchtet - über Haiti hinweggezogen, wären er und seine Familie diesmal vielleicht selbst unter den Todesopfern gewesen. Schon "Matthew" hatte die Hütte der Familie schwer beschädigt - und Hurrikan "Irma" war noch kräftiger. In Fabiens Heimatstadt Petit Goâve im Südwesten Haitis überstanden fast nur solide Steinhäuser "Matthew" weitestgehend unbeschädigt. Einige dieser Häuser waren aus Steinen gebaut, die Fabien hergestellt hatte.

"Diese Steine können Leben retten. Allerdings nicht meins. Dafür bin ich zu arm", sagt der Tagelöhner. Der Schweiß läuft ihm in Strömen über den muskulösen Körper, als er Sand und Zement mischt, um daraus Ziegel zu pressen. "Die Steine sind wirklich gut. Aber sie sind auch teuer", sagt der Arbeiter. Ein Ziegel kostet umgerechnet rund 45 Cent. Der 28-Jährige weiß nicht, wie viele Steine man braucht, um ein Haus zu bauen. Aber er weiß, dass es mehr sind, als er sich von seinen Einkommen von rund 65 Euro pro Monat leisten kann.

Auch für Micheline Cetoute wären die Ziegel unerschwinglich. Dennoch wohnt die arbeitslose Frau mit ihren drei erwachsenen Kindern und ihrem Mann in einem winzigen Steinhäuschen. Erbaut ist es aus Ziegeln, die Fabien und seine Kollegen hergestellt haben. Statiker haben berechnet, dass die Unterkunft Wirbelstürmen wie "Matthew" und sogar einem heftigen Erdbeben wie dem vom 12. Januar 2010 standhalten soll. "Ich war gerade auf dem Markt, als vor mir plötzlich die Kirche in sich zusammenbrach. Ich bin sofort nach Hause gerannt, um nach meinem Mann und meinen Kindern zu schauen. Überall lagen Tote, überall schrien Verletzte", erinnert sich Micheline an den Tag, der vor sieben Jahren Hundertausenden Haitianern den Tod brachte. Damals lebte sie mit ihrer Familie noch in einer windschiefen Hütte. Doch als die Erde nach 37 Sekunden aufhörte zu beben, war davon nur noch ein Haufen Schutt übrig. "Meine Kinder, mein Mann und ich hatten überlebt, aber außer unseren Leben hatten wir alles verloren", berichtet Micheline. Drei Monate schlief sie mit ihrer Familie nur unter einer Plane, dann fünf Jahre in einer provisorischen Notunterkunft. Schließlich baute die Welthungerhilfe gemeinsam mit der Bevölkerung für Micheline und 161 weitere Familien aus Petit Goâve, die beim Beben alles verloren hatten, einfache, aber solide Steinhäuser.

"Ich habe gesehen, dass bei unserem Haus viel mehr Eisen und Zement verbaut worden ist als bei den meisten anderen Häusern", erzählt Micheline. Auf gerade mal 24 Quadratmetern lebt sie jetzt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann. "Vor einem Jahr hat ,Matthew' die Häuser unserer Nachbarn zerstört. Dabei waren sie auch erst nach dem Erdbeben gebaut worden. Aber bei uns hat nichts gewackelt. Es ist zwar eng, aber dafür leben und schlafen wir hier, ohne uns zu fürchten", berichtet Micheline.

Viele Haitianer hingegen leben auch ein Jahr nach Wirbelsturm "Matthew" und sieben Jahre nach dem Erdbeben noch in Angst. "Oft wurden die Häuser nur sehr notdürftig repariert oder in schlechter Qualität neu gebaut. Einem erneuten Beben oder einem starken Hurrikan würden viele nicht standhalten. Vor allem für die Ärmsten kann eine Naturkatastrophe so leicht wieder zu einer humanitären Katastrophe werden", sagt ein Architekt, der in den letzten sieben Jahren für verschiedene Hilfsorganisationen in Haiti gearbeitet hat, seinen Namen jedoch nicht in der Zeitung lesen will.

Ohne internationale Hilfe wären in dem Land, das auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen den 163. von 188 Plätzen belegt, wohl noch viel mehr Menschen gestorben. Doch beim Wiederaufbau wurden viele Fehler gemacht. "Das Erdbeben war eine Katastrophe. Die Reaktion auf das Beben war die nächste Katastrophe. Der Staat war handlungsunfähig", sagt Gabriel Frederic, Programm-Koordinator der Welthungerhilfe in Haiti. Überstürzt ins Land strömende Hilfsorganisationen füllten das Vakuum, das der Staat hinterlassen hatte, und arbeiteten völlig unkoordiniert nebeneinander her.

"Die Zivilgesellschaft muss von der Regierung endlich einfordern, dass sie mehr zum Schutz der eigenen Bevölkerung tut", regt Gabriel Frederic sich auf. Doch in einem Land, in dem ständig politischer Ausnahmezustand herrscht, Korruption allgegenwärtig ist und kleptokratische Politiker sich oft lediglich um ihr eigenes Wohl kümmern, wird viel versprochen und wenig gehalten. Die Erfahrung haben auch die Männer von der Steinpresse gemacht. Fabien Legype: "Nach dem Erdbeben und nach ,Matthew' sind hier ein paar Leute von der Regierung aufgetaucht. Sie haben schöne Reden geschwungen, aber danach ist nichts passiert. Von Politikern erwarte ich seitdem gar nichts mehr."