Freie Fahrt mit Großstadt-Flair

15.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:57 Uhr

Foto: DK

Vor 125 Jahren ging in New York die erste Rolltreppe der Welt in Betrieb. Es dauerte lange, bis die deutschen Städte nachzogen. Große Kaufhäuser wirkten mit solchen Anlagen mondän. Mancherorts in der Region gelten sie bis heute als legendär.

Es gibt ein paar Dinge, an denen jeder erkennt, dass ein Ort eine "richtige" Stadt ist: Dazu zählen Hochhäuser (zur Not auch fünfstöckige Wohnblocks), eine Fußgängerzone (mühsam der lokalen Autofahrerlobby abgerungen), und ein mindestens zweigeschossiges Kaufhaus mit Gesamtsortiment. Das Maß aller Dinge aber ist, dass irgendwo in dieser Stadt eine öffentlich zugängliche Rolltreppe steht. Die Rolltreppe gilt vielen Menschen als Inbegriff von Urbanität. Und am heutigen 16. Januar gibt es Grund zum Feiern: Vor genau 125 Jahren wurde die erste richtige Rolltreppe der Welt in Betrieb genommen. Das war natürlich in der modernsten aller Städte: in New York, in einer Station der U-Bahn.

Es gab wie bei vielen Erfindungen einen kleinen Vorlauf, weswegen das Jubiläum zum Teil schon vor einem Jahr begangen wurde: Am 15. März 1892 wurde nämlich das US-Patent für die Rolltreppe an einen gewissen Jesse W. Reno vergeben, und noch im selben Jahr wurde das allererste Modell auf dem Rummelplatz ausprobiert. Das hatte aber noch keine Stufen, sondern war eine Art Förderband. Auf dem Oktoberfest in München gibt es nach wie vor eine nostalgische Anlage, die wohl in diese Richtung geht: der "Toboggan" auf der "Oidn Wiesn", eine Gaudi vor allem für die Zuschauer. Der echte Durchbruch für die elektrisch betriebene Rolltreppe mit beweglichem Geländer kam erst im Jahr darauf an jenem New Yorker Januartag des Jahres 1893.

Die Deutschen mussten lange warten: Erst 1925 wurde in einem großen Kölner Kaufhaus die erste Rolltreppe moderner Bauart eingerichtet. Es waren - neben den U-Bahnen - die Kaufhäuser, die den weltweiten Siegeszug der Rolltreppen einläuteten. In Bayern allerdings wollte gut Ding noch etwas mehr Weile haben. Die erste Rolltreppe von München wurde 1931 im Kaufhaus Uhlfelder am Viktualienmarkt eingebaut. Und in den mittelgroßen Städten dauerte es noch viel länger, nämlich bis in die 1950er Jahre. Die Älteren bekommen bei der Erinnerung daran heute noch feuchte Augen. Was wäre das Wirtschaftswunder ohne den mondänen Service einer Rolltreppe?

In München war das Kaufhaus Oberpollinger in der Neuhauser Straße in den 50er-Jahren ganz vorne mit dabei. In Nürnberg zeigte der Kaufhof Flagge - und die Besucher aus dem Umland staunten Bauklötze. So schrieb ein Zeitungs-Chronist über einen Ausflug der Schule Großhöbing (bei Greding) im Sommer 1951 nach Nürnberg: "Besondere Freude machte den Kindern die Rolltreppe im ,Kaufhof' in der Königsstraße." Man darf vermuten, dass dieses Erlebnis wesentlich nachhaltiger in Erinnerung blieb als die ebenfalls besuchte "Blumen- und Gartenschau". Wer in Augsburg zum Einkaufen ging, konnte ab 1957 erstmals den Luxus einer Rolltreppe bestaunen: im Zentralkaufhaus, dem heutigen Kaufhof. Regensburg konnte 1955 melden, dass jetzt bereits die zweite Rolltreppe im Stadtgebiet gebaut werde, nämlich im Kaufhaus Bilka. Auch hier machten Schulausflüge gerne Station. Die größeren Schüler aus Eutenhofen (Stadt Dietfurt) etwa besichtigten 1961 laut Zeitungsmeldung nicht nur die Walhalla: "Auch ein Warenhaus durften die Kinder besuchen, wo sie zum erstenmal in ihrem Leben eine Rolltreppe zu sehen bekamen."

In Ingolstadt entstand die erste Rolltreppe 1962 im Kaufhaus Merkur, später Kaufhof. Das Haus in der Ludwigstraße war schon 1952 eröffnet worden, damals aber hatten man in provinzieller Bescheidenheit noch geglaubt, auf eine Rolltreppe verzichten zu können. Dieser Irrtum wurde nun behoben - und fortan war für die Ingolstädter und die Kunden aus dem Umland diese hochmoderne Steighilfe eine Attraktion allerersten Ranges. Anfangs herrschte ungläubiges Staunen - und bei manchem auch gehöriger Respekt. Zum 50-jährigen Merkur-Jubiläum 2002 erinnerte sich die ehemalige Verkäuferin Elfriede Foroughi: "Als die erste Rolltreppe eingebaut wurde, haben sich manche Kunden anfangs nicht getraut, damit zu fahren."

Das legte sich, zumal die anderen großen Konkurrenten in der Stadt rasch nachzogen. Das Modehaus Xaver Mayr 1965, das Kaufhaus Edelmann (EMA) rüstete 1967 nach. Wer also in den 1970er-Jahren in Ingolstadt Kind war, konnte vom Rolltreppenfahren gar nicht genug kriegen. Dieses kostenlose Vergnügen hielt als spaßiger Spruch sogar Einzug in den Alltags-Wortschatz: "Erster Preis ist eine Freifahrt auf der Rolltreppe vom Merkur!" hieß es, wenn es irgendwo außer Lob nichts zu gewinnen gab. Den Erwachsenen aber dämmerte bei der automatischen Fahrt in de Höhe, dass es für die "Schanz" gleichfalls nach oben ging, auf dem Weg zur richtigen Großstadt, getreu dem Motto, das Xaver Mayr bei der Eröffnung seines Neubaus samt Rolltreppe ausgerufen hatte "Größer - moderner - leistungsfähiger".

Man kann sich ausmalen, wie solcherlei Novitäten in den Kreisstädten aufgenommen wurden: als Kampfansage. Und vereinzelt nahmen die lokalen Platzhirsche den Fehdehandschuh der Großstadtkonkurrenz auf. "Ein großer Tag für das Kaufhaus Urban", hieß es am 6. Dezember 1972 im PFAFFENHOFENER KURIER. "Clou dieses Kaufhaus-Neubaus in Pfaffenhofen ist zweifelsohne die Rolltreppe, die die Kunden in den ersten Stock befördert" - und sie tut es bis heute. Der "Urban-Clou" gelang den Holledauern etwa zur selben Zeit, als im nahen München zu den Olympischen Spielen die U-Bahn eröffnet wurde, mit riesigen Rolltreppen an jeder Station. Die erste Linie, die U 6, fuhr ab Oktober 1971. Wenn heute eine Rolltreppe noch der Erwähnung wert sein soll, muss dann schon viel zusammenpassen. Das Paradebeispiel für den ganz großen Auftritt ist die Elbphilharmonie in Hamburg. Als die vor gut einem Jahr eröffnet wurde, kam kein Bericht ohne den Hinweis auf die dort installierte 82 Meter lange Treppenanlage aus, die in elegantem Bogen zur öffentlichen Plaza führt.

Ansonsten sind die Rolltreppen zu Allerwelts-Bauwerken geworden. In ganz Deutschland sind es etwa 35.000. Nicht einmal altbewährte Selbstverständlichkeiten haben noch Geltung: Am Münchner Hauptbahnhof wurde im vergangenen Jahr die Regel "Rechts stehen, links gehen" aufgekündigt - was für Empörung und Kopfschütteln sorgte. Eins ist sicher: Heute staunt keine Schulklasse mehr, erst recht nicht, wenn der Wille zum glamourösen Auftritt gänzlich fehlt. Die zweite Rolltreppe von Pfaffenhofen, in einem Baumarkt platziert, ist vor Ort allenfalls deswegen populär, weil sie durch die Farbeimertransporte der Kunden im Lauf der Jahre bunt gesprenkelt wurde. Andernorts geht die Entwicklung schon wieder rückwärts. In Donauwörth etwa hatte das Kaufhaus "Woha" ("Wohlfeile Handelsgesellschaft") seit dem Jahr 1968 eine Rolltreppe im Einsatz. Die laut Lokalzeitung "legendäre" Anlage fiel einer Generalsanierung vor zwei Jahren zum Opfer. Und in Neuburg gab es einst eine Anlage im "Fürstgartencenter" am Oswaldplatz: Sie führte zum ersten Stock, zu Schuh- und Bekleidungsgeschäften. Als die auszogen, verschwand auch die Rolltreppe. Heute befindet sich im Obergeschoss ein Fitnessstudio - dessen Kundschaft sollte den Weg auch ohne elektromechanische Hilfe schaffen. Und der Neuburger Marktkauf in der Ingolstädter Straße baute vor drei Jahren gleichfalls seine Rolltreppe ab. Fürs Obergeschoss hatte sich nämlich jahrelang kein Mieter finden lassen. Das war's dann mit der letzten Rolltreppe von Neuburg. Schluss mit Luxus.

Denn billig waren Rolltreppen natürlich nie. Lange dachte man, so sei das eben bei exklusiven Gütern, für die es weltweit nur einige wenige Hersteller gibt. Bis herauskam, dass sich die Hersteller von Fahrstühlen und Rolltreppen jahrelang in einem geheimen Kartell abgesprochen hatten und von ihren Kunden "Mondpreise" verlangten. Die EU-Wettbewerbskommission verhängte über das "Lift-Kartell" 2007 die Rekordstrafe von 992 Millionen Euro - damals ein neuer Rekord. Und so fällt auch dieses unter die Rubrik "legendär".