Neues Leben hinter alten Mauern

Die verwunschenen Schieferdörfer in Portugals Mitte sind noch immer ein Geheimtipp für Touristen

17.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:18 Uhr

Korkbauern achten beim Schälen der Bäume darauf, nicht mehr als ein Drittel des Baumes abzuernten. Netzflicker bessern sich im Hafen von Peniche ihre karge Rente mit filigraner Handarbeit auf. Der größte Reichtum des Naturparks Serras de Aire e Candeeiros befindet sich unter der Erde: Die mehr als 150 Millionen Jahre alte Tropfsteinhöhle Santo António erstreckt sich über 6000 Quadratmeter.

Zwischen Lissabon und Porto breitet sich Portugals stille Mitte aus: Nur knapp zwei Stunden Fahrt mit Bus oder Auto und der Reisende steht an wilden Küsten, vor Bergen, in finsteren Wäldern und verwunschenen Dörfern: Wohnen hier der Klabautermann, Kobolde und Feen

"Der Atlantische Ozean ist unser Vorgarten" schwärmt Maria Santos. Vor ihrem Häuschen in Peniche schaut sie über das in der Mittagssonne weiß glitzernde Meer. Vor dem Haus an der Ufermauer am Largo do Visconte wabern dünne Rauchschwaden von gegrilltem frischen Seehecht und Sardinen durch die klare Luft. Ein langer Tisch ist mit Früchten, Salaten, Säften und kühlem Wein gedeckt. Unter dem blauen Himmel kreischen ein paar fette Möwen, draußen auf dem Ozean schaukeln verloren zwei Fischerboote. "Luxo da Simplicidade" (Luxus des Einfachen) nennen Menschen im "Centro de Portugal" ihre Art zu leben. Kommen Touristen, werden die Tische zu einem luftigen Picknick am Atlantik auch schon mal auf Bestellung gedeckt, sagt Maria. Die schönste Ferienzeit sei die erste Augustwoche, wenn bei der Fischerprozession nachts bunt beleuchtete Schiffe mit Madonna-Figuren aufs Meer fahren. Auch im Juni seien Bewohner zu Ehren der portugiesischen "Santos populares" (Schutzheiligen) in Feierlaune.

Naturfreunde zieht es von Mai bis September mit Booten auf die vor Peniche liegenden Berlengas-Inseln. Weil in dem Biosphären-Reservat nur wenige Menschen leben, haben Tausende Vögel das Schutzgebiet für sich erobert. Für Taucher und Schnorchler ist das klare, fischreiche Wasser vor den Grotten eher eine Art seltenes Unterwasserkino. Aber Vorsicht: Ist der Klabautermann wieder einmal außer Rand und Band, kann die zwölf Kilometer lange Bootstour über den rauen Atlantik zu einem wahren Höllentrip werden.

Am Hafen flicken Frauen und Männer an einem 250 Quadratmeter großen Fischernetz. Antonio Tavarez bessert wie seine Kollegen mit filigraner Handarbeit seine bescheidene Rente auf. Früher gab es mehr zu tun, klagt der 72-Jährige. Wegen der EU-Fangquote laufen heute weniger Schiffe aus. Trotzdem müssen Netze immer noch ausgebessert oder Teile komplett ersetzt werden. Seit Generationen lebe seine Familie von der Speisekammer des Atlantiks, berichtet Antonio weiter. Da die Erträge für den Lebensunterhalt oft nicht ausreichen, ziehe es jedoch immer weniger junge Männer auf ein Fischerboot.

Abwechslung und Vergnügen, aber auch Jobs bieten die nahen Badeorte. Mittlerweile Weltruf genießt das quirlige Fischerdorf Nazaré. Berühmtheit erlangte das Städtchen nicht nur wegen seiner Bademöglichkeiten und der guten Fischrestaurants, sondern weil die Monsterwellen an der Silberküste selbst Hawaii als Surfspot in den Schatten stellen.

Rund 120 Kilometer weiter im Nordwesten öffnet sich im "Centro de Portugal" die waldreiche Serra da Lousa. Auf kurvigen Straßen windet sich das Auto hinauf in ein Zauberland. Der Blick schweift über einen von Baumwipfeln geformten sattgrünen Teppich. An einen Bergrücken schmiegt sich das Schieferdorf Sao Simao. Den wie aus einem Märchen in die Wirklichkeit gestellten Ort mit ein paar jahrhundertealten Häusern aus Quarz und Schiefer durchzieht nur eine einzige Gasse. Hier scheint Müßiggang als Tagwerk noch möglich. Der Wirt einer kleinen Herberge führt seine Gäste hinunter zum Flusslauf zu imposanten Felsformationen. Auf der Wanderung über steile, wildbewachsene Stolperpfade raschelt es mehrmals im Unterholz. Vielleicht huschen ja gerade ein paar neugierige Zwerge mit roten Tarnkappen durchs Geäst ...

Wie Sao Simao ist auch Ferraria de San Joao Mitglied im Projekt "Aldeias do Xisto". In der Initiative haben sich 27 fast vergessene Schieferdörfer zwischen Serra da Lousa und spanischer Grenze zusammengetan und sich aus einem Dornröschenschlaf befreit. 15 Millionen Euro Fördermittel der Europäischen Union halfen dabei, Abwanderung und Verfall zu stoppen, und die verwahrlosten Bergnester im traditionellen Stil wieder aufzubauen.

"Ziegen hüten, Mais anbauen, Rüben pflanzen und im Winter hinter klammen rußigen Wänden frieren - wer will so leben", schüttelt Pedro Pedrosa den Kopf. Heute ist das Dorf eine beschauliche Oase der Stille. 46 Einwohner leben in sanierten Steinhäusern, deren klobige Mauern kaum einen Rückschluss auf das komfortable Innere zulassen. Regenwassernutzung und Solarenergie seien in seinen drei Ferienhäusern ebenso selbstverständlich wie die Speisekarte mit ausschließlich regionalen Produkten. Der behutsame Aufbau eines sozial- und naturverträglichen Tourismus trägt erste Früchte. Von 10 000 im Jahr 2010 seien die Übernachtungen in den Schieferdörfern bis 2014 auf 50 000 gestiegen, bilanziert der gelernte Informatiker.

Morgens um acht Uhr ziehen letzte Nebelschwaden durch die Wipfel im Tal. Die Sonne spiegelt sich im kleinen Hauspool. Wie mit einem Hexenstreich klart der Himmel plötzlich auf, bis Sekunden später neue Schwaden heranziehen und sich im Tal unter der Sonne verlieren. Jetzt ist die beste Zeit für eine Mountainbike-Tour oder einen Spaziergang unter Pinien und Eukalyptusbäumen, über Wiesen und durch versteckte Gärten hinüber zum 200 Jahre alten Korkeichenwald.

Zwischen geschälten Stämmen hat Pedro ein Essen vorbereitet. Eiergebäck, Tomaten und Mozzarella, hausgemachter Ziegenkäse und Joghurt sowie Pastéis de bacalhau (Fischpasteten) laden zum Schmaus. Mit einer ausladenden Geste zeigt er in den Dorfwald: "Guter Kork braucht seine Zeit." 30 Jahre alt müsse ein Baum bis zur ersten Schälung sein. Später werde dann alle neun Jahre ein Drittel der Rinde geerntet, mehr verkrafte die Eiche nicht. Manchmal würden Besucher einen Baum für 40 bis 80 Euro "adoptieren" und an dem Ernteertrag beteiligt.

Viele Eichen hätten den Besitzer freilich noch nicht gewechselt, räumt Petro ein. Trotz der langsam steigenden Nachfrage seien die Schieferdörfer noch immer Portugals am besten gehütetes touristisches Geheimnis. ‹ŒDK