Neuburg
Leben in der Zwischenwelt

26.11.2015 | Stand 02.12.2020, 20:30 Uhr

Foto: Suzanne Schattenhofer

Neuburg (DK) Hossam Al Haj Hasan ist mit seiner Familie aus Syrien geflüchtet. In einer Serie erzählt unsere Zeitung von seinem Schicksal. Die Flüchtlinge werden von Neuburg nach Schrobenhausen umquartiert - in einen Container.

Ein trüber Tag und Tränen. Abschied nehmen von Freunden: Wieder verlässt eine syrische Familie die Flüchtlingsunterkunft in der Lassigny-Kaserne in Neuburg – Menschen, die Hossam Al Haj Hasan (37) und seiner Frau Rasha (29) ans Herz gewachsen sind in dieser kurzen, gemeinsamen Zeit. Das Flüchtlingsschicksal schweißt die Menschen zusammen. Die Frauen umarmen sich, küssen sich dreimal, wie es Sitte ist in arabischen Ländern. Und weinen. Die Männer, mit unbewegten Mienen, klopfen sich auf die Schultern, ganz fest. Stärke zeigen.

Dann fährt der bis unters Dach beladene VW-Bus davon, und zurück bleibt Trübsal. „Jeden Tag sage ich bye-bye, alle Freunde gehen“, meint Hossam. „Vielleicht sind wir nur noch hier, weil ich Englisch spreche und dolmetsche.“ Wann wird seine Familie aufbrechen? Und wohin geht es? Fragen, auf die es an diesem trüben Tag in dieser Zwischenwelt keine Antwort gibt.

Und so gibt sich Hossam, der von Beruf Tänzer ist, einen Ruck – und geht mit seinem Sohn Essen holen wie jeden Mittag. In einem Gebäude, nur einen Steinwurf entfernt, verteilen freiwillige Helfer vom BRK Honig, Putenwurst und Käse, Bananen, Äpfel, Gurken und Tomaten, Schokolade sowie warme Fertiggerichte. Hossam ist der Appetit an diesem Tag längst vergangen, aber er bedankt sich trotzdem für das Essen, packt die Rationen in Plastiktüten und marschiert zurück in die Unterkunft.

Rinderhackfleisch in Gemüsesoße mit Reis gibt es heute. Es riecht gut. Hossam und seine Frau jedoch essen seit Tagen fast nichts und haben stark abgenommen. „Das Essen ist okay, aber wir vertragen es nicht“, erklärt er fast entschuldigend. „Wir sind Nudeln, Kartoffeln und jeden Tag Fleisch nicht gewohnt.“ Die Flucht, die vielen Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung und die Ungewissheit sind der Familie vermutlich auch auf den Magen geschlagen. „Meine Frau kocht so gut – aus Nichts zaubert sie die besten Gerichte“, sagt Hossam. „Wenn wir nur eine Küche hätten.“

Hossam will endlich weg, raus aus diesem großen Backsteinhaus mit den langen Gängen und zahllosen Zimmern, in denen ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, eine befremdliche Betriebsamkeit. Ruhelosigkeit, die sich in Warten erschöpft. Die Männer stehen draußen in der Kälte und rauchen. Kinder kurven auf Dreirädern herum. Die Frauen gehen ihren Alltagsaufgaben nach, kochen Tee, waschen, schaffen Ordnung auf diesen wenigen Quadratmetern, wühlen Kleidung aus Plastiksäcken, ordnen Lebensmittel in Pappkartons ein. Die meiste Zeit sitzen sie unten auf den Stockbetten, geduckt wie in einer Höhle. Als Hossam mit dem Essen kommt, rutscht Rasha noch tiefer in diese Höhle hinein, verkriecht sich. Die kleine Rushan ist die Einzige, die zu essen beginnt: Zufrieden sitzt sie am Boden und fuhrwerkt mit dem Plastikbesteck in Reis und Hackfleisch herum und lässt es sich schmecken.

Hossams Telefon klingelt. Die befreundete Familie meldet sich und erzählt von dem schönen neuen Haus in Königsmoos, in dem sie gerade angekommen sind. Es gibt aber keine Decken. Ob Hossam danach fragen kann? Sofort kümmert sich der 37-Jährige darum und bittet die Sicherheitsleute um Hilfe. Er kümmert sich um alle und alles, hat auch seinem anderen Freund geholfen, der jetzt in Erding in einem Container lebt. Der Mann ist zuckerkrank und leidet an einem offenen Geschwür am Fuß. „Er kann nicht laufen, und ich wollte ihn auf dem Weg zum Krankenhaus nach München begleiten“, berichtet Hossam. Aber ein Flüchtling mit Residenzpflicht darf nicht einfach von Neuburg nach Erding und weiter nach München fahren. Tagelang hat Hossam sich abgemüht für seinen kranken Freund.

Es bereitet aber ihm Freude, zu helfen, verschafft ihm das Gefühl, etwas Gutes zurückzugeben. „Neulich wollte ich einer alten Frau ins Auto helfen. Erst ist sie zurückgewichen und hatte Angst. Aber ich habe sie freundlich angelacht, da hat sie sich helfen lassen“, erzählt Hossam. „Ich hoffe, ich kann die Einstellung der Deutschen ändern.“ Gerade jetzt, nach den Terroranschlägen von Paris, sei die Stimmung gegenüber Flüchtlingen deutlich abgekühlt: „Der Ladenbesitzer, bei dem ich Tabak kaufe, war immer sehr freundlich. Wir haben herumgescherzt. Doch letztes Mal hat er so komisch ,au revoir’ gesagt.“

Wieder klingelt Hossams Handy. Die Freunde aus Königsmoos fragen, wie dieses Gerät für nasse Wäsche heiße. Sie brauchen einen Wäschetrockner. Hossam lächelt gequält. Hätte er doch auch schon eine Wohnung für seine Frau und seine Kinder. „Inschallah“, sagt er. So Gott will. Zwei Tage später kommt am Morgen ein Anruf vom Landratsamt: Transfer um 13 Uhr. Nach Schrobenhausen. Container. Hossams Miene ist wie versteinert, er kann seine Enttäuschung kaum verbergen. Als er erfährt, dass es in spätestens zwei Wochen zurück nach Neuburg geht, versteht er die Welt nicht mehr.

Weil Tag für Tag so viele neue Flüchtlinge ankommen – 39 allein nach Neuburg –, muss Platz in der Lassigny-Kaserne geschaffen werden. Die Mitarbeiter des Landratsamtes tun ihr Bestes für dieses „Wir schaffen das“. Aber Wunder bewirken können sie auch nicht. Eine Familie ist tags zuvor nach München gebracht worden, nachts standen die Leute plötzlich wieder in Neuburg vor der Tür. „Wir bleiben nicht in München, es ist schrecklich dort“, flehen sie um Hilfe. „Lieber schlafen wir auf der Straße.“ Sie hocken auf der Treppe, aufgelöst. An ihnen vorbei trägt Hossam seine Habseligkeiten nach unten. Mehr als drei Stunden wartet die Familie auf den Transfer. Quälend langsam verstreicht die Zeit. Es wird schon dunkel, als die Fahrt losgeht.

Hossam und seine Familie sollen dezentral untergebracht werden, aber noch ist keine Wohnung frei. Deshalb werden sie vorübergehend in dem Container-Camp in Schrobenhausen einquartiert. Dort empfängt grelles Scheinwerferlicht die Neuankömmlinge. Der Hausmeister zeigt Hossam das Zimmer: Vier Betten, ein Kinderbettchen für Rushan, ein Tisch, zwei Spinde. Sofort stehen zwei, drei fremde Kinder da und schauen neugierig zu, wie die neue Familie einzieht. Die Mitarbeiterin des Landratsamtes übergibt Hossam Geschirr, Wäscheständer und Haushaltsutensilien. Er muss quittieren. Dann atmet er tief durch. „In Syrien hatte ich nur Angst. Hier sind meine Familie und ich sicher. Hier habe ich Freunde. Hier kann ich lachen. Dafür danke ich den Deutschen.“

Dann schließt Hossam Al Haj Hasan zum ersten Mal seit Monaten wieder eine Tür hinter sich zu und sperrt ab.