Digitalisierung ja - Eventcharakter nein

23.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:24 Uhr
Heinrich Bedford-Strohm will die Jugend für die Kirche gewinnen – auch mit einem gewissen Grad an Digitalisierung. Im Zentrum müsse aber immer die persönliche Begegnung stehen. −Foto: Wenisch

München (DK) Die Kirchen kämpfen mit Mitgliederschwund und Nachwuchsmangel. Der
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und bayerische Landesbischof, Heinrich Bedford-Strohm, erklärt, wie er Jugendliche erreichen will und welche Rolle dabei die Digitalisierung spielt.

Herr Bedford-Strohm, die Gesellschaft wird immer komplizierter, viele Menschen suchen Orientierung und Halt. Für die Kirchen müsste das eigentlich ein gefundenes Fressen sein. Warum gelingt es dennoch nicht, die Menschen an die Kirche zu binden?
Heinrich Bedford-Strohm: Es gibt auch Menschen, die sich mit dem christlichen Glauben neu auseinandersetzen und ja dazu sagen. Wir haben Kircheneintritte, die Zahl ist aber kleiner als die der Austritte. Diese schmerzen uns und wir müssen nachdenken: Was fehlt diesen Menschen?

Zu welchem Ergebnis kommen Sie dabei?
Bedford-Strohm: Man kann die Situation heute nicht mit 1950 vergleichen. Damals gab es soziale Sanktionen, wenn jemand aus der Kirche ausgetreten ist. Heute können die Menschen frei wählen und ich möchte nicht in den Zustand von 1950 zurück. Ich freue mich über die 46 Millionen Menschen in Deutschland, die aus Freiheit Mitglied der beiden großen Kirchen sind. Das sind sehr viele Menschen. Es muss uns aber gelingen, die Kraft des Evangeliums und die Alltagstauglichkeit der Orientierungen aus der Bibel viel deutlicher zu machen.

Wie kann das funktionieren?
Bedford-Strohm: Ein Beispiel aus dem Alltag: Wir neigen dazu, nur das Negative zu sehen und alles für selbstverständlich zu nehmen. Viele Menschen fragen sich: Wie kann ich dankbar leben? Die biblische Tradition gibt hierauf kraftvolle Antworten. Denn ein Dankgebet gehört zu jedem Gottesdienst. Das ist Sprache für die Dankbarkeit. Wer sich darauf einlässt, wird die Erfahrung machen, dass er lernt, dankbar zu sein. Ein anderes Beispiel ist, zu lernen, wie man anderen Menschen und sich selbst vergeben kann.

Damit sich die Menschen darauf einlassen können, müssten sie sich aber erst einmal mit der Bibel beschäftigen. Wie kann man den einfachen Mann auf der Straße erreichen?
Bedford-Strohm: Wir sollten sicher weniger darauf warten, dass die Menschen zu uns kommen. Wir müssen hingehen. Wir Christen sollten viel mehr unsere Lust am Christ-sein zum Ausdruck bringen, gerade auch wenn wir uns für das Gemeinwesen engagieren. In der Flüchtlingsfrage haben sich viele bewusste Christen für Schwache eingesetzt. Da fragen sich Menschen, die der Kirche distanziert gegenüberstehen: Aus welcher Motivation machen die das?

Die Basis soll also neue Mitglieder gewinnen. Wird das organisiert vorangetrieben, etwa durch Fortbildungen für Laien?
Bedford-Strohm: Da kommt es auf die gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ebenen unserer Kirche an – zwischen denen, die die Mittel zur Verfügung stellen können, und denen, die die Mittel nutzen, um die Ausstrahlungskraft des Glaubens sichtbar zu machen. Die Kirchenleitung muss natürlich mithelfen, möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Konkretes Beispiel: Wir haben sehr schnell 20 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt, um den Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren, Hilfestellung zu geben – für hauptamtliche Ansprechpartner, Sozialarbeiter, Deutschkurse oder Fortbildungen für Ehrenamtliche. Im Bildungsbereich tun wir sehr viel, um Menschen das Rüstzeug zu geben, ihren Glauben zu bezeugen.

In den vergangenen zehn Jahren hat die EKD dennoch drei Millionen Mitglieder verloren. Droht der EKD irgendwann ein Schattendasein?
Bedford-Strohm: Diese Gefahr sehe ich überhaupt nicht. Man darf nichts beschönigen, aber man darf auch keine Katastrophenstimmung verbreiten. Nach wie vor sind sehr viele Menschen Mitglied der Kirche. Und diejenigen, die jetzt Mitglied sind, haben laut Umfragen eine stärkere Bindung. Trotzdem müssen wir vor allem versuchen, junge Menschen besser zu erreichen.

Wollen Sie in den Schulen aktiver werden?
Bedford-Strohm: In den Schulen sind wir jeden Tag im Religionsunterricht präsent. Das ist ein Punkt, bei dem wir uns sehr viel Mühe geben müssen. In evangelischen Kindergärten müssen wir die biblischen Geschichten erzählen, die in den Familien nicht mehr weitergegeben werden. Eine dritte Möglichkeit ist eine gute Jugendarbeit direkt nach der Konfirmation. Wer dort gute Erfahrungen macht, wird manchmal für das ganze Leben geprägt. Auch beim Reformationsjubiläum wollen wir viele Junge erreichen. Das Jugendcamp in Wittenberg im Sommer 2017 ist ausgebucht. Wir rechnen im Reformationssommer 2017 mit insgesamt rund 20.000 Teilnehmern. Wenn wir die richtigen Gemeinschaftsformen in der Jugendarbeit haben, kann auch das Gefühl überwunden werden, dass Kirche uncool ist. Ich hoffe, dass viele Menschen im Reformationsjubiläumsjahr 2017 Gott neu entdecken, weil die Themen sichtbarer werden.

Muss die Kirche dazu insgesamt schriller, lauter und eventmäßiger werden?
Bedford-Strohm: Eventmäßig gefällt mir nicht, weil beim Event das Event im Zentrum steht. Bei der Kirche steht nach wie vor Jesus Christus im Zentrum. Das Wichtigste ist, dass wir zu unserer Botschaft stehen und in modernen Veranstaltungen unseren Glauben bezeugen. Der Schlüssel ist, dass wir Jugendliche selbst gestalten lassen. Dann sehen sie in der Kirche auch ihre Heimat.

Wie weit wird die Kirche bei der Digitalisierung gehen? Sind Livestreams von Gottesdiensten oder eine Begleitung von Gottesdiensten via Twitter wünschenswert?
Bedford-Strohm: Livestreams bieten wir bei unseren Synoden oder verschiedenen Gottesdiensten bereits an. Beim ersten digitalen Weltkirchentag am 8. Oktober anlässlich des Reformationsjubiläums können Menschen hier bei uns zeitgleich über das Internet mit Christen in unseren Partnerkirchen in Asien, Afrika, Europa und Amerika Gottesdienst feiern, Vorträge hören und darüber diskutieren. Solche Formate nutzen wir zunehmend. Die digitalen Kommunikationskanäle können Ausgangsbasis für lebendige und herzliche Beziehungen sein.

Auch die Seelsorge per Chat wird in der Kirche diskutiert.
Bedford-Strohm: Wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, um Menschen zu begleiten. Die klassische Seelsorge sollte man aber nicht durch Chats ersetzen. Wenn man sich ins Gesicht sieht, kann man viel persönlicher miteinander kommunizieren. Das ist der Kern der Seelsorge.

Kann die Digitalisierung helfen, den Pfarrermangel auszugleichen, weil ein Pfarrer durch die digitalen Medien ein größeres Gebiet betreuen kann?
Bedford-Strohm: Digitale Kommunikation kann immer nur Hilfsfunktion haben. Die Gemeinde lebt davon, dass Menschen persönlich in Kontakt mit ihrem Pfarrer treten können. Wenn wir ab 2020 weniger Pfarrer haben, weil viele pensioniert werden, müssen Gemeinden gut zusammenarbeiten.

Wie wollen Sie neue Pfarrer gewinnen?
Bedford-Strohm: Das Wichtigste sind gute Arbeitsbedingungen. In den vergangenen Jahren haben wir einen Prozess auf den Weg gebracht, der verhindern soll, dass die Pfarrer ausgebrannt werden, weil sie keine Freizeit haben. Entscheidend ist aber, dass ein Mensch sich für das Evangelium begeistert. Und je mehr junge Menschen diese wunderbare Botschaft für sich entdecken, desto mehr werden auch diesen nach wie vor sehr attraktiven Beruf wählen.

Werfen wir einen konkreten Blick in die Zukunft – zunächst auf die Ökumene. Wie lautet ihre Prognose: Ist 2025 ein gemeinsames Abendmahl möglich?
Bedford-Strohm: Ich will keine Zeitprognose abgeben. Aber ich hoffe, dass wir auch an dieser Stelle näher zusammenkommen. Wir sind dabei, den gemeinsamen Christusbezug als unterschiedliche Konfessionen neu zu entdecken. Christus ist der eine Herr – kein katholischer, kein evangelischer und kein orthodoxer Christus. Wir müssen nicht eine Organisation sein, aber es soll eine versöhnte Verschiedenheit sein. Diesen Begriff hat Papst Franziskus in letzter Zeit häufig gebraucht, das macht mir Hoffnung.

Werden 2025 auch Homosexuelle kirchlich heiraten können?
Bedford-Strohm: In den evangelischen Landeskirchen gibt es schon Schritte in diese Richtung. Für mich ist entscheidend, dass Menschen, die sich lieben, die für einander einstehen wollen und dafür rechtliche Formen finden wollen, diese auch bekommen. Ich freue mich mit, wenn ich die tiefe Freude gleichgeschlechtlicher Paare wahrnehme, dass sie diese äußere Form jetzt auch bekommen können. Ob man das dann „gleichgeschlechtliche eingetragene Partnerschaft“ oder „Ehe“ nennt, steht für mich nicht im Zentrum.

Eines der wichtigsten Zukunftsthemen ist die Flüchtlingsfrage. Die Kirchen engagieren sich hier sehr stark. Kann die Kirche daraus gestärkt hervorgehen?
Bedford-Strohm: Das Flüchtlingsthema darf kein Mittel sein, um neue Mitglieder zu gewinnen oder die Kirche gut dastehen zu lassen. Nur wenn wir den Menschen in Not wirklich um ihrer selbst willen beistehen und nicht nach Erfolg schielen, ist das Ausdruck unseres Glaubens. Eine Kirche, die Hilfe für die Armen nicht nur auf der Kanzel verkündet, sondern wirklich an ihrer Seite steht, gewinnt aber an Ausstrahlungskraft.

Sowohl Sie als auch Kardinal Reinhard Marx haben sich in der Flüchtlingsdebatte mehrfach mit deutlichen Worten an die CSU gewandt. Muss die Kirche wieder politischer werden?
Bedford-Strohm: Die Kirche sollte auf keinen Fall parteipolitisch werden und sich in der Tagespolitik erschöpfen. Aber wenn bei Flüchtlingen die Not auch von politischen Entscheidungen abhängt, kann sie sich gar nicht aus der Politik heraushalten, sondern muss dafür eintreten, dass das Wort „christlich“ auch wirklich ernst genommen wird. Der Verantwortungshorizont endet nicht an bayerischen, deutschen oder europäischen Grenzen. Die Kirche muss Fluchtursachen – wie ungerechte Handelsstrukturen oder Waffenexporte in Krisengebiete, die die Gewalt nur noch verschlimmern – bekämpfen.