Liverpool
Der Tag, der den Fußball veränderte

Vor 25 Jahren starben 96 Fans des FC Liverpool bei einer Massenpanik im Hillsborough-Stadion von Sheffield

14.04.2014 | Stand 02.12.2020, 22:49 Uhr

Liverpool/Sheffield (DK) Ein Vierteljahrhundert ist es her. Der 15. April 1989 geht ein als der Tag der schlimmsten Katastrophe in der Geschichte des englischen Fußballs. Im Halbfinale des FA Cup stehen sich der FC Liverpool und Nottingham Forest gegenüber. Weil viel zu viele Besucher eingelassen werden, kommt es zur Katastrophe. Am Ende sind 96 Tote und 766 Verletzte zu beklagen.

Singend und klatschend stehen die Fans des FC Liverpool auf der Tribüne des Hillsborough-Stadions. Im nordenglischen Sheffield wollen sie das Halbfinale des FA-Cups gegen Nottingham Forest sehen. Es ist der 15. April 1989, ein strahlend schöner Samstagnachmittag. Alles ist bereit für ein großes Fußballfest. Aber von draußen schieben sich noch hunderte Fußballanhänger ungeduldig auf die Eingänge zu. Um den Druck aus der Menge zu nehmen, öffnet die Polizei ein zusätzliches Tor. Ein tödlicher Fehler. Denn die Fans drängen durch einen schmalen Tunnel alle in denselben Block. Während unten auf dem Rasen die ersten Spielminuten laufen, bricht auf der nun völlig überfüllten Tribüne Panik aus. Menschen werden niedergetrampelt oder am Zaun eingequetscht.
 
„Die Menschen bekamen keine Luft mehr. Ich spürte, wie andere an meinen Knöcheln zogen“, wird Jahre später ein Fan, der als 16-Jähriger das Unglück überlebte, der BBC erzählen. In Panik klettern Menschen über die hohen Metallzäune auf das Spielfeld oder versuchen verzweifelt, die oberen Ränge zu erreichen. Sechs Minuten dauert es, bis Schiedsrichter Ray Lewis die Partie unterbricht. Filmaufnahmen zeigen, wie die Sicherheitskräfte versuchen, die Menschen im Block zu halten. „Die Polizei meinte zuerst, es sei eine Sache von fünf bis zehn Minuten, wieder Ordnung in die Menge zu bringen“, erzählt Lewis später. Ein tragischer Irrtum: 96 Tote und 766 Verletzte lautet die Bilanz der Katastrophe von Hillsborough. Das jüngste Todesopfer ist der zehnjährige Jon-Paul Gilhooley. Der Cousin von Steven Gerrard, dem heutigen Spielführer des FC Liverpool, wird erdrückt.

Die schlimmste Tragödie des englischen Fußballs brennt sich tief ins kollektive Gedächtnis des Landes ein. Und sie hat Konsequenzen für die Sicherheitsvorkehrungen in britischen Fußballstadien: Stehtribünen und Zäune sind seitdem verboten. Doch nicht nur die Trauer um die Opfer prägt den 25. Jahrestag der Katastrophe, den die Briten am heutigen Dienstag begehen. Immer noch sind viele auch wütend auf Polizei und Ordner, die Fans nicht in andere Blöcke des Stadions umleiteten, Rettungskräfte zu spät ins Stadion ließen und die Ereignisse in den folgenden Monaten falsch darstellten.

Und sie sind wütend auf die englische Krawallpresse, allen voran auf das Revolverblatt „The Sun“. Die veröffentlichte vier Tage nach der Katastrophe einen Hetzartikel mit der Schlagzeile „Die Wahrheit“. Betrunkene Liverpool-Anhänger hätten das Unglück ausgelöst, hieß es da. Überlebende Fans hätten die Taschen von Toten geplündert und auf die „tapferen Polizisten“ uriniert. Zwar entschuldigte sich die Zeitung Jahre später halbherzig, doch verzeihen wird Liverpool der „Sun“ wohl nie.

Längst ist Hillsborough zum Politikum geworden: Im September 2012 erhielten die Angehörigen endlich Einblick in den Bericht einer unabhängigen Prüfungskommission. Darin wird bestätigt, dass gezielt versucht worden ist, den Liverpool-Fans die Schuld an dem Unglück in die Schuhe zuschieben. Premierminister David Cameron drückte daraufhin im Unterhaus sein Bedauern über Fehler und Fehlinformationen der Behörden aus. Die Polizei habe Protokolle nachträglich verändert und Zeugenaussagen gefälscht. Die „Verschwörung des Establishments“, wie es der Labour-Abgeordnete Andy Burnham nannte, reichte bis hinauf zur damaligen Premierministerin Margaret Thatcher. Mehr noch: 41 Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn schneller Hilfe gekommen wäre, so die Kommission.

Aufgrund dieses Berichts kassierte der Londoner High Court die alten Urteilssprüche. Es ist ein später Erfolg für die „Hillsborough Family Support Group“ (HFSG), die 74 betroffene Familien repräsentiert. Jahrelang kämpfte die Gruppe gegen das Ergebnis einer ersten Untersuchung von 1991. „Accidental death“ (Unfalltod) war damals entschieden worden. Der Vorsitzende Richter stellte nun gleich zum Auftakt des neuen Verfahrens klar, dass die Opfer keine Schuld treffe. „Das ist absolut großartig. Wir wussten es seit 25 Jahren“, sagte die HFSG-Vorsitzende Margaret Aspinall. Um den Familien der Toten weite Anfahrtswege zu ersparen, hat das Justizministerium in Nordengland den größten Gerichtssaal des Landes eingerichtet. Mindestens neun Monate soll die Untersuchung dauern.

Die ersten Tage waren emotional: Angehörige der Opfer erzählten aus dem Leben der Verstorbenen. Zum Beispiel die Schwester von Kevin Traynor, der 1989 erst 16 Jahre alt war: „Oh nein, nicht wieder dieses Stadion“, habe er vor dem Spiel in Sheffield noch gesagt. „Keine Angst, ich bin ja bei dir“, habe sein 26 Jahre alter Bruder Christopher geantwortet. Keiner von beiden kehrte wieder heim.

Ironie des Schicksals: Rund fünf Wochen nach der Katastrophe von Hillsborough gewann Liverpool den Pokal und wurde im Jahr darauf zum 18. Mal englischer Fußballmeister. Seither, seit 24 Jahren also, warten die Fans der „Reds“ auf den nächsten Meistertitel. Doch es scheint so, als könnte es in dieser Saison endlich klappen. Erfolgstrainer Brendan Rodgers hat die Titeljagd den Opfern des 15. April 1989 gewidmet: „Ich weiß, dass im Himmel 96 Menschen sind, die dieses Team immer unterstützen werden.“