Ingolstadt
"Du wirst sterben, Schlange"

Der Ingolstädter Geiselnehmer hatte eines seiner Opfer monatelang terrorisiert

19.08.2013 | Stand 02.12.2020, 23:46 Uhr
Symbolbild Gericht −Foto: Foto: Pixabay

Ingolstadt (DK) Dem Mann, der gestern im Alten Rathaus von Ingolstadt mehrere Geiseln nahm, war erst vor drei Wochen am Ingolstädter Landgericht der Prozess gemacht worden: wegen Stalkings. Der 24-Jährige hatte einer ein Jahr älteren Frau monatelang nachgestellt. Der Richter verurteilte ihn zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Das Urteil hielt ihn jedoch nicht von einer weiteren Tat ab. So wurde die 25-Jährige, die inzwischen im Alten Rathaus als Sekretärin des dritten Bürgermeisters Sepp Mißlbeck arbeitet, gestern zum Opfer einer Geiselnahme.

Kennen gelernt hatten sich die beiden vor gut sechs Jahren. Der junge Mann bat im Jobcenter um Arbeit, die Frau war dort angestellt und ihr Chef für den damals 18-Jährigen zuständig. „Es hat sich irgendwie eine Freundschaft entwickelt“, sagte sie vor Gericht. Die beiden trafen sich zu Spaziergängen und zum Pizzaessen, er holte sie auch öfter nach ihrer Arbeit ab. Schließlich lernte die Frau einen neuen Partner kennen. „Er hat das nicht verkraftet“, sagte die 25-Jährige. Im April 2012 versuchte sie, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Die Kurznachrichten – sie hatten sich täglich mehrere Dutzend SMS geschrieben, teilweise mehr als 90 Stück – bekamen daraufhin einen neuen Ton: „Also gut, dann zerstöre ich dein Leben, wenn du dich gegen die Freundschaft entscheidest.“ Oder: „Ich weiß, wo du arbeitest, wo du lebst . . . warum zwingst du mich, dir weh zu tun“. Die junge Frau ging zur Polizei, der 24-Jährige musste fortan jeden Kontakt unterlassen. „Manchmal bin ich eben komisch“, so lautete seine Erklärung vor Gericht.

Wenige Tage später meldete er sich allerdings wieder, auch eine Todesdrohung schickte der Mann auf ihr Handy: „Krieg wird über dich kommen. Du wirst sterben, Schlange.“ Diese Nachricht hatte er verschlüsselt: Statt Buchstaben hatte der junge Mann die Ziffern auf dem Zahlenblock verwendet, die – eingetippt in ein Mobiltelefon – die Todesdrohung ergeben. Auch an ihrem Arbeitsplatz – zu dem Zeitpunkt noch im Sozialen Rathaus – versuchte der 24-Jährige, sie zu erreichen, erhielt letztlich Hausverbot. Als die junge Frau nicht auf seine Nachrichten reagierte, drohte er, ihre Kollegen und ihren Vorgesetzten zu verletzen.

Trotz des Hausverbots betrat der Mann Mitte Mai 2012 das Gebäude, die Mitarbeiter alarmierten die Polizei. „Wir sollten ihn in Gewahrsam nehmen, da er weitere Gewalttaten angekündigt hatte“, sagte einer der Beamten vor Gericht. Wenige Tage nach dieser Festnahme meldete sich der damalige Chef der 25-Jährigen nochmals bei der Polizei: „Er hat sich bedankt, weil er überzeugt war, dass alles auch ganz anders hätte ausgehen können.“ Als der 24-Jährige Anfang August vergangenen Jahres erneut versuchte, Kontakt aufzunehmen, nahm die Polizei ihn schließlich fest. Die Monate bis zur Verhandlung verbrachte er in einer psychiatrischen Klinik in München. Einer der behandelnden Ärzte beurteilte ihn als „hochmanipulativ“. Zunächst gab er im Krankenhaus vor, er sei gehörlos. Erst als die Psychologen ihm auf die Schliche kamen, gab er diese Farce auf. Außerdem habe er eine Beziehung zu einer der Krankenschwestern erfunden und einmal einen Pfleger angegriffen. „Es war bezeichnend, dass er die Leute nicht mit Namen ansprechen konnte“, berichtete ein anderer Psychiater. Ihn selbst nannte der 24-Jährige „Doktor Schnuffelschnäuzchen“. „Es ergibt sich ein komplexes Krankheitsbild“, lautete sein Fazit. „Es sind viele Persönlichkeitsteile, die gestört sind.“ Er erkenne klare schizoide Züge und auch Autismus.

Ein dritter Psychiater sah die Ursache dafür in der Vergangenheit des 24-Jährigen. „Wegen seiner bisherigen Lebensgeschichte musste er zwangsläufig eine solche Entwicklung einschlagen“, sagte der Mediziner vor Gericht. Die Mutter des Mannes wechselte ihre Partner häufig, hatte neun Kinder von fünf verschiedenen Männern. Sein Vater, so habe ihm der 24-Jährige berichtet, habe ihn sexuell missbraucht. Schon während seiner Kindheit und Jugend lebte der Angeklagte in verschiedenen Heimen und psychiatrischen Einrichtungen.

Ende Juli 2013 verurteilte ihn das Landgericht zu einer Bewährungsstrafe. „Wahrscheinlich müsste man ihn bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag einsperren – aber das geht nicht“, sagte Oberstaatsanwalt Günter Mayerhöfer damals in seinem Plädoyer.

Offenbar hat die Stadt dem 24-Jährigen vorige Woche in der kommunalen Obdachlosenunterkunft Hausverbot erteilt. Das berichtete gestern Anwalt Jörg Gragert. Er hat den jungen Mann in dem elfmonatigen Verfahren vertreten. Gestern rief der Geiselnehmer von Bürgermeister Mißlbecks Büro aus in Gragerts Kanzlei an und erzählte ihm von seiner Tat.