Ein Albtraum für Staat und Gesellschaft

17.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:20 Uhr

Es war der Höhepunkt des Deutschen Herbstes: Vor 40 Jahren ermordete die RAF Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Nie wieder wurden Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik vom Terror so herausgefordert wie in jenen Tagen im Oktober 1977.

Die Bilder haben sich tief eingebrannt in das kollektive Gedächtnis. Das Foto von Hanns Martin Schleyer, vor sich das Schild "Gefangener der RAF". Die Lufthansa-Maschine "Landshut", in flirrender Hitze auf einem Rollfeld in Mogadischu. Der grüne Audi 100, abgestellt in Mülhausen im Elsass, ins Licht heller Scheinwerfer getaucht. Im Kofferraum: die Leiche von Hanns Martin Schleyer, aus nächster Nähe mit Kopfschüssen getötet.

Die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten markiert den blutigen Endpunkt des "Deutschen Herbstes" vor 40 Jahren. Nie wieder wurden Staat und Gesellschaft so herausgefordert, nie wieder hat der Terror eine solche Dimension bekommen in Deutschland. Die Folge waren neue Sicherheitsgesetze und die Aufrüstung des Staates - die neue Terrorakte nicht verhindern konnten. Bis heute sind nicht alle Hintergründe der Schleyer-Entführung aufgeklärt. Und bis heute stellt sich die Frage, ob die Geschichte hätte anders ausgehen können.

Das Jahr 1977 bildete den Höhepunkt des Terrors der linksextremistischen Roten Armee Fraktion. Im Zuge ihrer "Offensive 77" erschoss die RAF im April Generalbundesanwalt Siegfried Buback, im Juli Deutsche-Bank-Chef Jürgen Ponto. Am 5. September dann entführte das RAF-Kommando "Siegfried Hausner" Schleyer in Köln auf dem Heimweg zu seiner Wohnung. Dessen Fahrer und drei Leibwächter sterben im Kugelhagel.

Die Kidnapper verlangen die Freilassung von elf Gesinnungsgenossen, darunter die in Stammheim inhaftierten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) reagiert entschlossen: Der Staat darf sich nicht erpressen lassen. Im großen Krisenstab ruft er Vertreter von Regierung, Opposition und Sicherheitsbehörden zusammen. Und alle stellen sich hinter seine Linie.

Die folgenden 44 Tage wirken im Rückblick wie ein Film mit immer kürzeren Schnitten. Eine beispiellose Fahndung läuft an. Gegen die in Stammheim inhaftierten Terroristen wird eine "Kontaktsperre" verhängt, die aber nicht verhindert, dass sich die Gefangenen Waffen beschaffen und Informationen austauschen können.

Die RAF versteckt Schleyer zunächst in einer Wohnung in Erftstadt-Liblar bei Köln. Trotz eines Hinweises versandet diese Spur. Später wird Schleyer über Den Haag nach Brüssel verschleppt. Die Bundesregierung spielt auf Zeit, verlangt immer neue Lebenszeichen. Für die RAF wird immer deutlicher, dass ihre Aktion zu scheitern droht.

Vier Wochen nach Beginn der Entführung fliegt Brigitte Mohnhaupt, die als Kopf der Gruppe gilt, mit Klaus-Jürgen Boock, ihrem Genossen und Lebensgefährten, nach Bagdad, später nach Algier, um mit verbündeten radikalen Palästinensern eine Unterstützungsaktion zu besprechen. Am 13. Oktober kapern vier Palästinenser die "Landshut" auf dem Rückflug von Mallorca und stellen sich hinter die Forderungen der Schleyer-Entführer.

Nach einem tagelangen Irrflug, bei dem Flugkapitän Jürgen Schumann in Aden erschossen wird, landet die Maschine am 17. Oktober in Mogadischu, wo sie am 18. Oktober kurz nach Mitternacht von der deutschen Spezialeinheit GSG 9 gestürmt wird. Drei Terroristen sterben, alle 86 Geiseln werden befreit.

Die Bundesregierung ist mit dieser Aktion ein hohes Risiko eingegangen. Für den Fall des Scheiterns hatte Schmidt sein Rücktrittsgesuch schon vorformuliert. Im Nachtprogramm des Rundfunks wird die Nachricht von der Befreiung verbreitet. Trotz Kontaktsperre dringt sie bis in den siebten Stock des Hochsicherheitstraktes in Stuttgart-Stammheim. Wenige Stunden später, am frühen Morgen des 18. Oktober, werden Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe sterbend und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen gefunden.

Als Mohnhaupt, Boock und die anderen RAF-Leute, die mittlerweile in Bagdad eingetroffen sind, von der Befreiungsaktion und den Selbstmorden erfahren, wissen sie, dass es vorbei ist. Sie reagieren mit heller Wut. "Brigitte und ich waren uns einig, dass Schleyer sterben muss", schilderte Boock kürzlich im "Spiegel". "Wir schickten aus Bagdad ein Telex an die Brüsseler: ,Wir müssen das Geschäft jetzt zum Abschluss bringen, die letzte Ladung ist verdorben. Seht Ihr das auch so' Ihre Antwort war: ,Okay.' Einfach so: Okay." Einen Tag später, am 19. Oktober, ruft eine Frau im Stuttgarter Büro der Deutschen Presse-Agentur an und beginnt zu diktieren: "Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt (. . .) kann ihn in der Rue Charles Peguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen." Bis heute ist ungeklärt, wer genau aus dem Kreis der inzwischen verurteilten Terroristen die tödlichen Schüsse abgab. Fast alle der ermittelten RAF-Täter des Terrorjahrs 1977 wurden später gefasst und verurteilt. Zehn RAF-Mitglieder tauchten in der DDR unter. Doch es bildete sich eine dritte Generation, die weitermordete. Zu ihren Opfern zählen Alfred Herrhausen, Gerold von Braunmühl, Detlev Karsten Rohwedder. Viele der Taten sind bis heute nicht aufgeklärt. Erst im April 1998 verkündete die RAF ihre Auflösung.

Hätte Hanns Martin Schleyer gerettet werden können? Helmut Schmidt hat später von der schwersten Entscheidung seines Lebens gesprochen. Die Familie Schleyer hatte wenige Tage vor dessen Ermordung noch versucht, beim Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Verfügung zu erwirken, um die Bundesregierung zu zwingen, die Forderung der Entführer zu erfüllen. Vergeblich: Der Staat habe "nicht nur eine Schutzpflicht gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger", entschieden die Richter damals.

Die Autorin Anne Ameri-Siemens spricht in ihrem Buch "Ein Tag im Herbst" von "Schuldzusammenhängen", die Staat und RAF damals aneinander gekettet hätten. Hans-Jochen Vogel, der als Justizminister im engsten Beraterkreis von Schmidt die schwere Aufgabe hatte, den Kontakt zur Familie Schleyer zu halten, berichtet in dem Buch, wie sehr die Frage ihn heute noch quält. "Trage ich Schuld am Tod von Hanns Martin Schleyer? Im hohen Alter, gerade jetzt, da der eigene Tod näherrückt, denke ich oft darüber nach", schildert der 91-Jährige. "Haben wir uns schuldig gemacht? Die Frage begleitet mich seit 1977. Und die anderen von damals, die noch leben, sicher auch. Vier Jahrzehnte des Nachdenkens, aber ich komme immer wieder zu demselben Ergebnis: Ich habe Hanns Martin Schleyers Tod zwar nicht verschuldet, aber mitverursacht habe ich ihn doch."

 

Auch nach 40 Jahren sind noch viele Fragen offen


Wer hat Schleyer erschossen?

Es gibt eine Reihe von Namen, aber wer es wirklich war, wird wohl nie mit Sicherheit ermittelt werden können. "Belege gibt es nicht. Die, die es wissen, schweigen alle eisern", sagte der RAF-Experte Butz Peters. Peter-Jürgen Boock, selbst an der Entführung beteiligt, nannte Rolf Heißler und Stefan Wisniewski als Täter. Aber Boock war schon in Bagdad, als die tödlichen Schüsse fielen. Auch die Namen von Willy Peter Stoll und Rolf Clemens Wagner wurden genannt.

 

Wie haben die Häftlinge in Stammheim so schnell von der "Landshut"-Befreiung erfahren?

Baader, Ensslin und die anderen sollten durch die Entführung der "Landshut" freigepresst werden. Als der Plan in Mogadischu scheiterte und die GSG 9 die Maschine stürmte, begingen die Häftlinge wenige Stunden später im Hochsicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Wie sie trotz einer "Kontaktsperre" miteinander kommunizieren konnten, ist bis heute unklar. Bei Raspe in der Zelle wurde ein Radio gefunden, er könnte die Nachricht kurz vor 1 Uhr am 18. Oktober gehört haben. Dass sich die Gefangenen dann über umgebaute Lautsprecher verständigt hätten, glaubt RAF-Experte Peters nicht. Vielmehr hätten Protokolle festgehalten, dass sich die Häftlinge durch laute Rufe verständigten und den Schallschutz der Zellen überwanden. Dass ein Anwalt die Waffen für den kollektiven Selbstmord in die Zellen schmuggelte, ist unstrittig.

 

Welche Fehler haben die Sicherheitskräfte gemacht?

Die allergrößte Panne, sagt Peters, ist wohl in den ersten Tagen der Schleyer-Entführung passiert. Schleyer war in einer Wohnung im 3. Stock eines Hochhauses bei Köln. Einem Polizisten war in dem Haus eine Frau aufgefallen, die sich seltsam benahm und große Bündel von Geldscheinen mit sich führte. Der Hinweis des Beamten ging aber im Wirrwarr der Behörden unter. Unverständlich scheint auch, dass Schleyer nicht besser geschützt wurde. Immerhin hatte die "Bild"-Zeitung schon am 4. August - die RAF hatte wenige Tage zuvor den Bankier Jürgen Ponto erschossen - die Schlagzeile gebracht: "Schleyer soll der Nächste sein."

 

Noch immer sind einige RAF-Terroristen flüchtig. Was weiß man von ihnen?

Man hat sie die "RAF-Rentner" genannt: Ernst-Volker Staub (62), Daniela Klatte (58) und Burkhard Garweg (49). Sie stehen weit oben auf den Fahndungslisten wegen einer Serie von Raubüberfällen: Stuhr bei Bremen, Wolfsburg, zuletzt Cremlingen bei Braunschweig. Schwer bewaffnet, gefährlich, anscheinend ein bisschen unprofessionell. Garweg, Klette und Staub gehören zur sogenannten dritten Generation der RAF. Sie wurde aktiv, als zentrale Figuren wie Andreas Baader und Ulrike Meinhof längst tot waren. Auf ihr Konto sollen mehrere Morde gehen, so an Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen (1989) und Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder (1991). Die drei sind seit mehr als 25 Jahren auf der Flucht. Sie sollen in Norddeutschland oder in den Niederlanden leben, Staub ist angeblich auch auf einem Campingplatz in Italien gesehen worden.

 

Was könnten die "RAF-Rentner" zur Aufklärung beitragen?

Selbst wenn sie gefasst würden: Ob sie aussagen oder schweigen, ist offen, sagt Peters. Aber sie könnten viel erzählen, nicht über die RAF 1977, aber über das Ende der Terrorgruppe, die 1998 ihre Auflösung erklärte. Immerhin gibt es noch neun ungeklärte Morde. "Das ist die einzige Chance, noch etwas zu erfahren", sagt Peters. Mit Terror haben die kriminellen Machenschaften des Trios wohl nichts mehr zu tun, eher mit der Altersvorsorge. "Das Leben in der Illegalität ist wesentlich teurer als ein legales Leben", sagte Ex-Terrorist Boock vor Kurzem dem "Spiegel". ‹Œdpa