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Im Labyrinth des Tigers

An der Grenze zwischen Indien und Bangladesch liegt der größte Mangrovenwald der Erde

06.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:15 Uhr

Foto: DK

"Die Fährte stammt von letzter Nacht", sagt Tanjilur Rahman und legt seine Hand neben den Pfotenabdruck im trockenen Uferschlamm. Deutlich zeichnen sich dort die mächtigen Pranken eines Tigers ab. Eine Schleifspur ins Gebüsch lässt erahnen, was sich an dieser Stelle wohl erst vor wenigen Stunden abgespielt hat. Die Raubkatze muss einen Axishirsch überrascht und in die Mangroven gezerrt haben. "Die Hirsche sind seine Hauptbeute", erklärt der Tierfilmer.

Es ist noch früh am Morgen und der Wald schweigt. Wie weit ist der Tiger entfernt? "Er kann uns vielleicht gerade sehen, aber wir bekommen ihn höchstwahrscheinlich selbst nicht zu Gesicht", sagt Rahman. "Die Tiere sind einfach zu schlau und perfekt getarnt." Der Bangladescher Naturschützer filmte unter anderem für die BBC und den Discovery Channel die äußerst seltenen Raubkatzen. Jahrelang begleitete er sie durch einen für Menschen kaum zugänglichen Lebensraum. "Ich war manchmal einen ganzen Monat lang unterwegs, um brauchbare Szenen einzufangen."

Mehr als 400 Königstiger sollen in den Sundarbans leben, die größte zusammenhängende Population überhaupt. Naturschützer wie Rahman bezweifeln die offiziellen Zahlen. Sie glauben, dass heute nur noch weniger als die Hälfte durch das Labyrinth aus Dschungel und Meer streifen. "Die Wilderei nahm in den vergangenen Jahren überhand", sagt Rahman. "Wenn nicht etwas Drastisches passiert, werden wir hier in 30 Jahren keine Tiger mehr haben."

Die Sundarbans an der südlichen Grenze zwischen Indien und Bangladesch bilden den größten Mangrovenwald der Erde im Mündungsgebiet des Ganges und Brahmaputra. Sein Name wird von den nur hier vorkommenden Sundaribäumen abgeleitet und bedeutet auf Bengalisch "Schöner Wald". Mehr als 10 000 Quadratkilometer umfassen die Mangroven des Deltas. Etwa 60 Prozent des Unesco-Welterbes gehören zu Bangladesch.

Wenn Rahman mit dem Motorboot immer tiefer durch die verästelten Arme des Mangrovendschungels vordringt, glaubt man, in eine vom Menschen unangetastete Wildnis aus Wasser und Wald einzutauchen. "Mangrove ist nicht gleich Mangrove", erklärt er. Es gibt mehr als 60 Arten, die alle ihre eigene Nische besetzen." Durch das enorme Bevölkerungswachstum rund um das Schutzgebiet sind die Sundarbans zunehmend bedroht. Immer mehr Wilderer dringen in das Schutzgebiet ein und jagen Hirsche und Tiger. "Nur etwa 150 Wildhüter sollen hier ohne moderne Ausrüstung ein Gebiet von 6000 Quadratkilometern überwachen", sagt Rahman. "Wie soll das funktionieren"

Von der Gabelung eines Wasserwegs tönt ein aufgeregtes Quieken. Eine Gruppe Fischer hat auf ihren Holzkahn einen Käfig aus Bambusstäben geladen. An zwei Angeln haben sie Fischotter angeleint. Einige weitere Tiere schwimmen daneben frei umher. Spielerisch treiben sie sich durch das trübe Wasser. Seit Jahrhunderten wurden in Südasien Otter zur Fischerei eingesetzt. Heute ist diese traditionelle Art der Jagd nur noch in den Sundarbans lebendig. Die Otter jagen Fische in ein ausgespanntes Netz, das blitzschnell ins Boot gezogen wird. Nur die großen Fische werden eingesammelt. Beifänge verfüttern sie als Lohn an ihre Tiere. "Es sind nur noch wenige Familien, die Otter halten", sagt einer der Fischer. "Es ist harte Arbeit, und viele aus unserem Dorf sind längst auf moderne Netze umgestiegen." Wie viele Bewohner der Sundarbans klagt er über die Wasserverschmutzung und den Rückgang der Fischbestände. "Früher kamen wir mit vollen Booten nach Hause, heute sind wir viel länger unterwegs und holen doch weniger Fische aus dem Wasser." "Die einheimischen Fischer haben über Generationen gelernt, die Sundarbans zu bewahren", sagt Rahman. "Doch anderswo scheint man den Ernst der Lage nicht zu erkennen. Was hilft es, wenn wir uns Unesco-Welterbe nennen können, aber niemand die Zerstörung aufhält"

Am südlichen Rand der Sundarbans steuert am nächsten Morgen Malcolm Turner ein Zodiac-Schlauchboot in einen Seitenarm des Deltas. An Bord hat der australische Biologe eine Gruppe Touristen. Sie sind mit einem Expeditionsschiff über Sri Lanka und die Andamanen nach Bangladesch gekommen. Die Silver Discoverer ist das erste Kreuzfahrtschiff überhaupt, das die Sundarbans ansteuert. Vorne im Boot sitzt ein einheimischer Wildhüter mit buschigem Bart und einem Holzgewehr im Anschlag - der Tiger wegen. Man weiß ja nie. Plötzlich taucht vor dem Zodiac-Boot die Rückenflosse eines Delfins auf. "Es ist ein Gangesdelfin!", ruft er begeistert. Immer wieder erscheint der graue Körper an der Wasseroberfläche. Der blinde Delfin ist gerade auf Jagdzug. Er gehört zu den letzten seiner Art. Wahrscheinlich gibt es nur noch wenige Hundert der Delfine in Südasien. Die meisten davon wohl in den Sundarbans. "Nur wenige Menschen haben heute das Vorrecht, einen Gangesdelfin mit eigenen Augen zu sehen", sagt Turner. Bei der Rückkehr zur Silver Discoverer kreuzt auf einmal auch noch eine Gruppe Irawadi-Delfine vor dem Boot auf. Wegen ihrer gedrungenen Körperform und der runden Köpfe werden die Tiere auch Flussschweine genannt. Auch sie gelten als vom Aussterben bedroht. "Ich kann unser Glück kaum fassen!", jubelt Turner. "Wir hatten gleich zwei der seltensten Delfinarten der Welt im Fahrwasser! Was macht es da schon aus, das sich die Tiger nicht blicken lassen wollten." ‹ŒDK