Es bleibt nur der Blick nach vorne

24.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:55 Uhr

Foto: DK

Das verheerende Erdbeben in Nepal vor genau einem Jahr hat viele Tausend Todesopfer gefordert. Bis heute sind die Schäden kaum behoben, und bisher halten sich die Touristen mit Reisen in das Land zurück. Wie leben die Nepali mit den Folgen der Katastrophe, wie geht es weiter in Nepal?

Die beiden Mädchen, 14 und 16 Jahre alt, leben in einem Kinderheim in Nepal, rund 15 Kilometer vor Kathmandu. Rund um das Heim wurden viele Häuser zerstört, wie im gesamten Großraum Kathmandu: "Viele Menschen leben immer noch in Zelten oder Blechhütten direkt neben den Steinhaufen", wissen die Mädchen. 9000 Menschen insgesamt sind bei dem Beben in Nepal ums Leben gekommen. Es geschah nachmittags - in der Nacht wäre die Zahl der Opfer viel höher gewesen. Immerhin ist so keinem der Kinder in dem Heim etwas passiert, alle konnten sich ins Freie retten. Zwar haben die Wände jetzt teilweise große Risse, aber die Bausubstanz scheint stabil zu sein.

Das Kinderheim "Bright Horizon Children's Home" ist ein besonderes Zuhause für Suchitra. Ihr Vater hat die Familie verlassen, die Mutter könnte sich den Schulbesuch nicht leisten: "Eine Familie aus der Schweiz sponsort mich, damit ich zur Schule gehen und hier leben kann", berichtet sie. Sie ist intelligent, hat sogar eine Klasse übersprungen. Suni hat vor Jahren ihren Vater verloren, und auch ihr, die eine der besten in ihrer Klasse ist, ermöglicht ein privater Sponsor den Schulbesuch. Die Kinder halten Kontakt zu ihren Paten, schreiben ihnen und bekommen dann wiederum Briefe.

Der Aufenthalt hier kostet rund 900 Euro im Jahr, berichtet Karin Gasser, die sich von Europa aus um die Organisation kümmert: "Rund 250 Kinder bekommen so eine Chance zu lernen. Etwa 50 Schüler kommen aus der Nachbarschaft, sie wohnen dann zu Hause." Nach dem Erdbeben hat die Organisation die Zahl der Plätze erhöht. Zudem müssen die Schäden an den Gebäuden ausgebessert werden. Ohne das Geld aus Deutschland und der Schweiz wäre das nicht zu machen, sagt Gasser: "Der Staat ist nicht in der Lage, allen Kindern Schulunterricht zu ermöglichen. Das ist unser Ansatz, der auch funktioniert. Alle Kinder bekommen auch regelmäßige warme Mahlzeiten."

Viele Initiativen versuchen, so zu helfen und eine bessere Zukunft für Nepal zu ermöglichen. Das schwere Erdbeben hat das Land erheblich zurückgeworfen, der Staat ist noch lange nicht wieder auf die Beine gekommen.

Für die Kinder geht das Leben aber weiter: "Ich möchte später als Anwältin arbeiten", hofft Suchitra, und ihre beste Freundin, die 16-jährige Suni träumt vom Ausland: "Modedesignerin - das wäre was." Auf dem Dach machen sie Pläne, hier genießen sie die Aussicht. Wenn die Millionenstadt Kathmandu im Dunst liegt, drehen sie sich um und schauen zu den Bergen hinauf. Dann müssen sie aber wieder runter vom Dach - hier oben sind sie nicht sicher.

Weiter oben, in den Bergen des Himalaya, gibt es keine Schäden, aber auch kaum Touristen. Ein paar Autostunden von Suchitras und Sunis Heim entfernt schreitet Khadananda "KB" Barakoti langsam durch die riesigen Rhododendronwälder. Mit gerade mal zwei Trekkingtouristen ist der Bergführer unterwegs im Schutzgebiet um die berühmte Bergkette des Annapurna-Massivs: "Ich verstehe, dass letztes Jahr keiner in einem Land Urlaub machen wollte, in dem ein schlimmes Erdbeben Tausende Todesopfer gefordert hat", aber Nepal brauche die Touristen: "Auf den beliebtesten Trekkingrouten wie hier gab es so gut wie keine Schäden".

Die Natur ist so atemberaubend wie immer, und wer hier unterwegs ist, hat den Blick auf einige der höchsten Berge in diesem Jahr oft für sich. Nur langsam kehren die Touristen ins Land zurück. So muss der Bergführer, anders als sonst im Frühjahr, in keiner der Lodges eine Übernachtung reservieren. Es ist immer etwas frei.

Rund 50 bis 60 Prozent, so schätzen Reiseveranstalter den Einbruch bisher gegenüber dem Jahr 2014. "Wir hoffen, dass wir nächstes Jahr wieder deutlich mehr Gäste aus Europa haben", sagt Basu Dev Panday von "Nepal Social Treks & Expeditions", die von Kathmandu aus Touren in alle Regionen des Landes organisieren. Die großen deutschen Veranstalter "Hauser Exkursionen" und "Diamir Erlebnisreisen" hoffen auf die zweite Hochsaison im Herbst. Auch sie sehen bisher eine eher verhaltene Nachfrage in diesem Frühjahr. Die Menschen rund um die Berge der Annapurna-Kette können dieses Jahr durchstehen, denn viele der Gastgeber arbeiten nebenbei als Landwirte, bauen ihr Getreide und das Gemüse selbst an. Auch mit eher überschaubaren Gästezahlen sichern sie ihr bescheidenes Auskommen in den hoch gelegenen Dörfern des Himalaya.

Weit weg, rund um die Millionenstadt Kathmandu, ist nicht nur die Luft bedeutend schlechter: Auch die Verdienstmöglichkeiten sind mit nur wenigen Touristen schlechter. Auf dem weltberühmten Durbar Square in Kathmandu stehen sich die hilfsbereiten Touristenführer die Beine in den Bauch und stürzen sich förmlich auf jeden, der nach Tourist aussieht: "Brauchen Sie Hilfe? Benötigen Sie einen Führer", bieten sie ihre Dienste an. Meist erwarten sie für zwei, drei Stunden Führung umgerechnet etwa vier Euro. Doch die zerstörten Prachtbauten in Kathmandu, Bhaktapur oder Patan locken nur wenige Besucher an. Bis jetzt - ein Jahr nach dem Erdbeben - gibt es nur vage Pläne, wie man die Tempel und Palastbauten wieder aufbauen will. Einstweilen werden krumme Wände mit Holzbalken stabilisiert. Ohne internationale Hilfe wird der Wiederaufbau aber nicht gehen.

Auf internationale Hilfe wollten Basu Dev Panday und Ram Barakoti nach dem Erdbeben vom 25. April 2015 nicht warten. Direkt danach begann eine stressige Zeit für die jungen Unternehmer, denen das Reiseunternehmen gehört: "Wir mussten nahezu alle gebuchten Reisen stornieren, aber vor allem haben wir jede freie Minute genutzt, um den Menschen in den Dörfern zu helfen", berichtet der 30-jährige Panday: "Mit Freunden haben wir Lastwagen gemietet, mit Zelten und Essen beladen und sind los. Fast jede Nacht." Das sei eine gute Erfahrung gewesen, denn es habe geholfen, die Folgeschäden zu mildern und dort zu wirken, wo internationale Hilfe nicht vor Ort war.

Jetzt engagiert sich Panday mit seinen Mitarbeitern handfester: In einem Dorf entlang der Straße von Kathmandu nach Pokhara ist das Schulgebäude bei dem Erdbeben zerstört worden: "Wir haben Geld gespendet, aber wir bieten unseren Gästen auch an, sich die Schule anzusehen. Viele unterstützen das Projekt." Jetzt stehen schon die Außenmauern der neuen Schule von Dhading, das Dach fehlt noch, ebenso die Ausstattung wie Schultafeln oder Computer. Drei PC stehen noch im alten Schulhaus, das seit dem Beben gesperrt ist - total verstaubt und nicht mehr benutzbar.

Bis die Schule fertig ist, müssen die Kinder woanders lernen. Die 12-jährige Nikita Barakoti sitzt mit ihren Mitschülern - Hindus, Buddhisten, Moslems und Christen - in einem etwas engen Raum: "Wir hoffen, dass die neue Schule noch vor der Regenzeit fertig wird. Dieses Haus hier ist zwar stabil, aber es ist alt und etwas muffig", meint das Mädchen. Die Kleinsten, gerade mal drei Jahre alt, lernen sogar in einer Baracke, in der die Wände aus Bambusstangen bestehen.

Die Schule wird nur zu einem geringen Teil vom Staat finanziert, den größten Teil steuern die Eltern bei. Und die haben im Moment eigene Sorgen, wie etwa der Bergführer KB Barakoti, der aus dem Dorf stammt: "Mein Haus ist bei dem Erdbeben zerstört worden. Jetzt baue ich ein neues, stabiles Haus, in dem meine Eltern, meine Frau und meine vier Kinder mit mir leben können", sagt er. "Ohne Angst, dass das Haus einstürzt." Auch hier fehlt noch das Dach, aber auch er ist zuversichtlich, dass er vor dem Monsun nicht im Regen steht: "Denk positiv und gehe wie ein Yak. Der geht immer Schritt für Schritt und blickt nie zu weit nach vorn: Wer sich dagegen immer nur Sorgen um die Zukunft macht, kommt nicht weiter", ist seine Devise.

Dabei hätte er allen Grund, sich Sorgen zu machen. Er lebt von den Touristen. Während der Regenzeit hat er meist keine Aufträge, dann verdient er kein Geld. Er hofft auf den Herbst: "Ich bin mir sicher, dass es dann wieder aufwärts geht. Diese Landschaft, die Berge und die Menschen hier - das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt." Hoffen auf einen guten Herbst und ein neues Dach - und KB Barakoti, der Bergführer, wäre wieder glücklich.