"Das Ohr vergisst nicht"

02.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:44 Uhr
Die Ohren sollten nicht über einen längeren Zeitraum großem Lärm ausgesetzt werden. −Foto: Pexels

Am heutigen Samstag ist der "Welttag des Hörens". Der Leiter des Hörzentrums München, Hans-Peter Niedermeyer, spricht über Jugendsünden in der Disco und die Risiken von Kopfhörern.

Herr Niedermeyer, in den letzten Jahren schießen überall im Land die Hörgeräteläden wie Pilze aus dem Boden. Die Zunahme ist wirklich auffällig. Warum steigt Ihrer Ansicht nach der Bedarf?

Hans-Peter Niedermeyer: Der Bedarf steigt sicherlich deswegen, weil die Schwerhörigkeiten tatsächlich zunehmen, zum Beispiel aufgrund der Umweltbelastung. Darauf reagiert die Geschäftswelt, die diesen Markt erkennt. Natürlich ist ein Hörgeräteakustiker kein Arzt, sondern er ist ein Geschäftsmann, der sich bemüht, seine Geräte an die Frau und den Mann zu bringen. Es ist ein recht lukrativer Markt.

 

Aber die Leute sind auch sensibler geworden für das Thema Gehör?

Niedermeyer: Das Bewusstsein für eine Hörminderung hat in der Bevölkerung deutlich zugenommen. Das Kommunikationsbedürfnis steigt immer weiter, sodass es wirklich relevant ist, dass jemand nicht nur hört, sondern dass er auch tatsächlich gut versteht.

 

Früher konnte man sich also noch leichter durchmogeln, wenn man schlecht hörte? Heute hat man da ein echtes Handicap?

Niedermeyer: Genau. Das Handicap hat es zwar schon immer gegeben, aber das tritt immer mehr in den Vordergrund. Denn die Anforderung an die Qualität der Kommunikation steigt immer mehr, auch die Quantität von Kommunikation nimmt zu.

 

Liegt das dann auch an der Kommunikation mit technischen Geräten - Handys, wo es drauf ankommt, dass man wirklich gut hört, dass man genau hört?

Niedermeyer: Ja, das auch. Aber weil das ganze Leben schneller geworden ist, ist auch die Kommunikation schneller geworden. In einer sehr schnellen Kommunikation darf man sich aber einfach keine Fehler erlauben, sonst wird man missverstanden. Man muss wissen: Das Wort "doof" kommt aus dem Holländischen und bedeutet eigentlich "taub": Wenn jemand schlecht hört oder etwas nicht versteht oder vieles im wahrsten Sinne des Wortes missversteht, dann heißt es gleich: Der ist - auf bayerisch gesagt - "deppert", der kapiert das nicht. Man denkt aber nicht daran, dass der möglicherweise eine Höreinschränkung hat, ein Handicap.

 

Was sind denn aus Ihrer Sicht die wesentlichen Ursachen für schlechtes Hören? Könnte es das böse Erbe der "Disco-Generation" der 80er-Jahre sein? Dass es sich jetzt rächt, wenn jemand damals beim Tanzen gerne direkt neben der Bass-Box war?

Niedermeyer: Auf jeden Fall. Das hat damals begonnen. Ich bin jetzt 61 Jahre alt, und meine Generation hat beträchtliche Lärmbelastungen durch Musik gehabt.

 

Und heute?

Niedermeyer: Was heute einen ganz wesentlichen Beitrag zu Hörproblemen leistet, sind diese kleinen Einsteck-Kopfhörer, also die Walkman-Hörer. Die werden ja direkt in den Gehörgang eingesteckt. Deswegen kann der Schall keinen anderen Weg nehmen als direkt aufs Trommelfell. Zum Glück ist es teilweise inzwischen bei den jungen Menschen Mode geworden, nicht mehr mit diesen Einsteckhörern rumzulaufen, sondern mit einem richtigen Kapselhörer, der das ganze Ohr umschließt. Da sind die Auswirkungen nicht so gravierend, weil der Schalldruck auch noch auf die Ohrmuschel und den Kopf gegeben wird. Insofern sind diese Kopfhörer weniger schädlich als diese Einsteckhörer.

 

Sie warnen also in Ihrem Hörzentrum vor diesen Einsteckhörern?

Niedermeyer: Auf jeden Fall. Diese Einsteckhörer, die es jetzt auch drahtlos und winzig klein gibt und die sehr beliebt sind bei den jungen Leuten, bringen wirklich ein deutlich höheres Risiko für einen Hörschaden als die normalen Kopfhörer.

 

Gibt es für diese Problematik schon irgendein Bewusstsein in der Bevölkerung?

Niedermeyer: Jein. Ich glaube, ein wirkliches Bewusstsein gibt es nicht dafür. Es verwenden zwar viele, das kenne ich von meinen eigenen Kindern, diese Kapselhörer, die breit auf dem Ohr aufliegen - aber das soll vielleicht eher der Umwelt das Signal geben: Ich möchte gerade mit euch nichts zu tun haben, sondern mich auf meine Musik konzentrieren.

 

Welche Empfehlungen können Sie den Menschen sonst noch geben? Was können junge wie alte Menschen für ihr Gehör tun?

Niedermeyer: Das Wesentliche ist Prävention. Erhebliche Lärmquellen sollte man wirklich meiden. Wenn man auf ein Konzert geht, sollte man sich eben nicht neben die Box stellen. Überhaupt sollte man längere Lärmbelastungen, wenn's irgendwie geht, vermeiden. Denn das Ohr vergisst das nicht!

 

Die Leute müssen also aufpassen. Jeder Lärm rächt sich irgendwann, wenn auch erst in zwanzig, dreißig Jahren oder auch vierzig Jahren?

Niedermeyer: Genau. Das summiert sich. Und deswegen ist es heute so, dass man wirklich eine zunehmende Hörminderung hat.

 

Haben Sie selbst eigentlich ein Hörgerät, mit 61 Jahren? Geraten Sie da schon in das entsprechende Alter?

Niedermeyer: (lacht) Nein, ich habe keines. Ich weiß auch von Hörtests, dass ich noch ein sehr gutes Hörvermögen habe. Ich habe in der Vergangenheit keine besonderen Lärmexpositionen gehabt. Und ich hatte auch das Glück, dass ich niemals irgendein Knalltrauma hatte, etwa, dass ein Silvesterkracher dicht neben dem Ohr explodierte oder solche Dinge. Ich habe mich immer ganz gut davor schützen können, sodass mein Gehör noch gut ist. Aber weil Sie mein Alter erwähnen: Es ist ganz wichtig, dass man mal einen Hörtest machen lässt. Denn mit zunehmendem Alter wird das Hörvermögen oft schleichend schlechter. Wenn man von Angehörigen oder Bekannten darauf angesprochen wird, dass das Hörvermögen schlechter wird, dann kann es schon recht spät sein. Nicht zu spät - aber da kann man schon eine ganze Weile so eine Hörminderung mit sich herumtragen.

 

Kann ich denn rückwirkend noch etwas tun? Außer irgendwann ein Hörgerät einzustöpseln?

Niedermeyer: Rückwirkend, was einen erlittenen Schaden angeht, kann man nichts mehr machen. Aber man kann relativ frühzeitig zu einem Hörgerät greifen. Das ist heute auch die Empfehlung. Es gibt eine ganz klare medizinische Indikation, ab wann ein Hörgerät empfohlen wird. Die ergibt sich aus einer Kombination des Ton-Hörtests und des Sprachhörtests. Wenn diese Indikation besteht, dann sollte man sehr früh auf diese Geräte zurückgreifen. Wenn man zu lange wartet, verliert man an Hörerinnerung und Hörbewusstsein.

 

Man verliert die Hörerinnerung? Was bedeutet das?

Niedermeyer: Das kennt jeder von seinem Opa und seiner Oma, dass sie das vorhandene Hörgerät viel zu selten verwenden. Wenn sie es dann reinstecken, sagen sie: "Das hilft mir nichts. Ich komme damit nicht zurecht." Denn es sind auf einmal akustische Informationen wieder da, die diese Menschen seit 20 Jahren nicht mehr gehört haben. Und mit dieser dann neuen Information kommen die älteren Leute nicht mehr zurecht, die können sie nicht mehr entsprechend verarbeiten.

 

Gibt es denn eine Empfehlung, ab welchem Alter man präventiv zum Hörtest gehen sollte?

Niedermeyer: Bei der Normalbevölkerung, die keine besondere Lärmbelastung hat, macht das etwa ab dem 60. Lebensjahr Sinn. Wenn der Hörtest dann beim ersten Mal völlig unauffällig ist, dann braucht man nicht im nächsten Jahr gleich wieder hinzugehen. Aber man sollte das schon im Auge behalten, damit dieser Effekt des Verlernens von Hörerinnerung erst gar nicht eintritt. Wenn jemand häufig Lärm ausgesetzt ist, am Arbeitsplatz, ist es eh klar. Dann hat er einen Betriebsarzt, der dann jährlich einen Hörtest macht.

 

Das Gespräch führte

Richard Auer.