Bozen
Die unendliche Reise

30.09.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr

Foto: DK

Bozen/Rosenheim (DK) Von Eritrea nach Europa: Armut und Diktatur in ihrer Heimat treiben viele hundert Menschen in die Fremde. Mit Schlauchbooten fahren sie über das Mittelmeer, und ziehen dann weiter von Italien in Richtung Norden. Was sind ihre Ziele, wohin bringt sie ihre Reise? Und wird sich ihr Traum von einem besseren Leben erfüllen? Eine Reportage von der so genannten Brennerroute.

Eigentlich müsste ihre Reise längst zu Ende sein. Aber es geht weiter. Immer weiter. Atu T., Daniel B. und die junge Bana T. sind schon seit Monaten unterwegs. Ohne gültige Papiere, ohne Erlaubnis zum Aufenthalt. Aber das kann sie nicht aufhalten. Auch nicht an diesem frühen Morgen in diesen Tagen, am Bahnhof von Bozen in Südtirol. Bis vor Kurzem kannten sich die drei Afrikaner nicht. Jetzt hat sie das Schicksal zusammengeführt, und so stehen sie im Nachtzug der italienischen Staatsbahn, der sie von Rom bis nach Bozen gebracht hat. Draußen wartet eine Gruppe Polizisten. Während Touristen, Geschäftsleute und Berufspendler schnell aussteigen und zielstrebig weitereilen, bleiben die Afrikaner stehen. Die Präsenz der Polizei macht sie misstrauisch. Wo sind wir hier?

Aber die Polizei beobachtet sie nur stumm. Stattdessen werden die drei von jungen Freiwilligen angesprochen. „Kommt, wir laden euch zum Frühstück ein.“ Sie folgen genauso wie mehr als 80 weitere Menschen mit dunkler Hautfarbe, die mit ihnen im selben Zug waren. Fast alle kommen aus Eritrea. Vor wenigen Wochen sind sie mit Schlauchbooten übers Meer gefahren, von Libyen nach Lampedusa. Allein im Jahr 2014 kamen 33 500 Menschen aus Eritrea auf diesem Weg nach Europa. Sie sind Teil der großen Flüchtlingsbewegung, die Europa eigentlich schon länger beschäftigt, Deutschland aber erst in diesem Sommer so richtig erfasst hat.

„Raum für Verschieber und Weichensteller“ steht auf einem alten Schild am Bahnhofsgebäude von Bozen. Freiwillige, die von der Organisation Volontarius koordiniert werden, verteilen hier ein warmes Essen. Reis mit Gemüse, gespendet von Südtiroler Bürgern. Seit dem Frühjahr 2015 kümmert sich Volontarius um Menschen, die am Bahnhof Bozen stranden. „Die meisten von ihnen wollen sofort weiter,“ sagt Roberto Defant. „Wir geben ihnen nur eine kurze Atempause auf diesem Weg.“ Über die hohen Flüchtlingszahlen dieser Monate sagt er: „Die Geschichte hat gezeigt, dass Menschen immer stärker sind als Grenzzäune und Mauern.“

Der Grenzbahnhof Brenner, einige Stunden später. Mit einer Regionalbahn sind Atu, Daniel, Bana und die anderen von Bozen bis hierher gefahren. Dass auf der anderen Seite noch nicht Deutschland, sondern Österreich liegt, wussten die wenigsten. „Wie viele Züge noch bis Deutschland“ fragt Daniel B. Er zählt sein Geld durch. „Es ist fast alles weg“, sagt der 21-Jährige. Mit den Zügen fahren nur die Ärmsten, heißt es. Wer Geld hat, kauft sich einen Schleuser und lässt sich über die Autobahn fahren.

Als ein Eurocity aus Bologna mit dem Ziel „München“ einfährt, steigen Atu T., Daniel B. und Bana T. einfach ein. Daniel hat keine Fahrkarte, aber der Kontrolleur lässt ihn trotzdem mitfahren. Atu T., 28, setzt sich in ein Abteil und atmet durch. „Ich will nach England. Dort warten Verwandte auf mich. Der Weg über München ist meine letzte Chance.“ Er dreht den Kopf nach links und blickt aus dem Fenster. Jenbach in Tirol zieht vorbei, eine Alpenkulisse, über die sich schon der Nebel des Frühherbstes senkt. Berge und Nebel – „wie bei uns zu Hause in Asmara.“ Atu muss an seine Heimat denken, deren Hauptstadt auf 1100 Metern Höhe liegt. Warum fliehen so viele junge Menschen aus Eritrea?

Das Land am Roten Meer gilt als „Nordkorea Afrikas“, mit einer Militärdiktatur, die die Menschenrechte missachtet und ihre Bürger unterdrückt. „Ich bin aus der Armee abgehauen,“ sagt Atu T. „Deshalb habe ich keine Papiere mehr.“ Um seinen Hals hängt ein silberfarbenes Kreuz, auf dem Arm trägt er eine Tätowierung: „God help me“ („Gott steh mir bei“). Atu T. ist orthodoxer Christ, wie viele Eritreer. Ab dem zwölften Lebensjahr kann man in Eritrea zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen werden. „16 Jahre lang müssen wir dort bleiben,“ sagt Atu T. Er war Lastwagenfahrer, lernte auch, wie man einen Panzer steuert. „Dafür bekommen wir dann zehn Dollar im Monat. Und es geht immer nur um Krieg. Krieg mit Äthiopien, Krieg mit dem Sudan. Das ist doch kein Leben!“

Seit knapp fünf Monaten ist er jetzt unterwegs, die Stationen seiner Reise hat er noch alle im Kopf. Von der Hauptstadt Asmara lief er tagelang zu Fuß über die Grenze bis in die sudanesische Grenzstadt Kassala. Dann schloss er sich einem Autotreck an, der ihn quer durch die Wüste Sahara brachte. „Es war furchtbar“, sagt er. An der libyschen Küste schließlich stieg er in ein Schlauchboot, das ihn zur Insel Lampedusa bringen sollte. Aber so weit kamen sie nicht.

„Wir waren 420 Leute auf dem Boot“, erinnert er sich. „Ungefähr 40 sind ins Wasser gefallen und ertrunken.“ Sie harrten aus, „bis ein größeres Boot kam“. Es war die italienische Küstenwache, die sie rettete. Wie viel er für die Überfahrt bezahlt hat, verrät er nicht. „Bei mir waren es 4000 Dollar,“ sagt die junge Bana T., die ein Abteil weiter sitzt. Sie hat ihr kleines Kind bei ihren Eltern in Eritrea zurückgelassen, und will nach Dänemark. „Dann hole ich mein Kind wieder zu mir.“ Um das Geld für den Schleuser aufzutreiben, habe sie im ganzen Dorf, in der ganzen Familie um Unterstützung gebettelt. Irgendwann wird sie das Geld zurückzahlen müssen. Nur wie?

Plötzlich hält der Zug. Der Bahnhof Rosenheim, erster Halt auf deutscher Seite. Schon vom Brenner aus hat eine Beamtin der Bundespolizei aus dem Zug an die Kollegen in Rosenheim gemeldet, dass vermutlich einige Fahrgäste ohne Reisepass an Bord seien – „unerlaubt eingereist“. Wer jetzt in Rosenheim keine gültigen Papiere vorzeigen kann, muss aussteigen. Unsicher blicken Daniel B. und Bana T. auf den Bahnsteig. Was wird geschehen? Auf einer Treppe müssen sie warten, bis sie an der Reihe sind. Noch am Bahnsteig werden Alter und Herkunft abgefragt. Prüfen kann die Angaben niemand.

Nach Wüstentour und Mittelmeerüberquerung landen die Eritreer dann in der „Bearbeitungsstraße“. So nennt die Bundespolizei den Bereich ihrer Dienststelle, in dem die unerlaubt Eingereisten erfasst und registriert werden. Die Polizisten nehmen Fingerabdrücke und gleichen die Daten mit ihrem Computersystem ab.

Hat sich derjenige schon einmal strafbar gemacht? Wurde er oder sie schon in einem anderen Land als Asylbewerber registriert? Dann müsste er eigentlich nach EU-Recht wieder dorthin zurückkehren. „Aber wir stellen nur noch im Einzelfall fest, dass sie schon woanders einen Fingerabdruck abgegeben haben“, sagt Polizeisprecher Rainer Scharf. Weder Italien noch Österreich haben sie bisher erfasst – oder erfassen wollen.

Bewerten will der Polizeisprecher das nicht. Überhaupt bemüht er sich, die Dinge differenziert zu sehen. Klar, einerseits bringt der nicht mehr endende Strom von Einwanderern seine Kollegen an die Grenzen dessen, was sie leisten können. Überstunden, Dauereinsatz, Registrierung in der Endlosschleife. So kann es eigentlich nicht weitergehen. Im Monat August 2015 griff die Bundespolizei Rosenheim 9500 Menschen ohne Papiere auf – so viele wie im ganzen Jahr 2014.

Andererseits, sagt der Polizeisprecher, seien die Gründe, weshalb sich so viele Menschen auf den langen Weg nach Deutschland machen, für ihn durchaus nachvollziehbar. „Wir würden es in ihrer Lage vielleicht genauso machen.“ Nicht die Menschen ohne Papiere handeln aus krimineller Energie, sagt Scharf, sondern die, die mit der Not anderer Menschen Geld verdienen. Schleuser und Passfälscher wolle man aufspüren.

Atu, Daniel, Bana und die anderen bekommen ein Papier, mit dem sie sich bei einer Erstaufnahmeeinrichtung melden sollen, um einen Asylantrag zu stellen. Und irgendwann wird jemand entscheiden müssen, ob sie bleiben dürfen oder nicht. „Wer in ein anderes Land möchte, weil er dort Verwandte hat, kann einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen,“ sagt der Polizeisprecher.

Atu T. ist das egal. Er will nach England. Nur wenige Tage, nachdem er in Rosenheim kontrolliert wurde, stellt er ein Foto ins Internet. Es zeigt ihn am Fuße des Eiffelturms. Ganz offensichtlich hat er es bis nach Paris geschafft. Um jetzt noch nach Birmingham zu kommen, müsste er den Tunnel zwischen Calais und Dover durchqueren. Auf legalem Weg ist das praktisch unmöglich. Aber so viel unwahrscheinlicher als seine bisherige Reise wäre das jetzt auch nicht mehr.

 

Christian Selbherr ist Redakteur beim missio magazin, der Zeitschrift des katholischen Hilfswerks missio in München. Friedrich Stark ist Fotograf und lebt in Dortmund.