Berlin
Winke, winke

10.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:14 Uhr

Foto: DK

Berlin (DK) Bei den Jamaika-Sondierungsgesprächen in Berlin rückt der Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft ins Rampenlicht. Wer auf einer solchen Balustrade stehen darf, hat's geschafft. Das gilt von Zeit zu Zeit auch in der Region.

Die Sondierungen für eine Jamaika-Koalition in Berlin sind in vollem Gange - und schon jetzt gibt es ikonenhafte Bilder, wie da vier Parteien versuchen, sich in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten nahezukommen. Da stehen sie eng an eng auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft am Friedrich-Ebert-Platz mitten in Berlin, scherzend und fröhlich hinabwinkend zum Volk und den Fotografen. Die Botschaft ist klar: Hinter diesen Mauern wird hart gearbeitet, und auf dem Balkon zeigt man sich demonstrativ, um zu beweisen, dass man um die Bedeutung dieser Gespräche (und um die eigene Wichtigkeit) weiß. Wer hier stehen darf, gehört quasi schon zur Familie.

Bei den Beobachtern macht das Wort von der "Royal Family" die Runde. Denn für Spötter ist die Parallele zum Balkon von Buckingham Palace unübersehbar, wo sich das britische Königshaus an Jubeltagen den Untertanen präsentiert. SPD-Vizevorsitzender Ralf Stegner (der als Oppositionspolitiker am Boden bleiben muss), spricht von einer "albernen Balkon-Politik mit immer denselben Winkebildern für die Kameras und Plattitüden für die Mikrofone". Wer will, kann da auch ein wenig Neid heraushören.

Ein paar Tage wird es aber noch so weitergehen, und das bietet die Gelegenheit zum Nachdenken über Balkon-Inszenierungen aller Art. Wer weiß schon, dass repräsentative Balustraden an öffentlichen Gebäuden einen eigenen Namen haben: Sie heißen "Erscheinungsbalkone". Wer auf einen solchen Balkon tritt, der latscht da nicht einfach raus, um mal kurz eine Zigarette zu rauchen und in die Sonne zu blinzeln. Wer die Tür nach draußen öffnet, der sucht den ganz großen Auftritt, der "erscheint".

Solche Balkone finden sich an Fürstenresidenzen, am Petersdom ("Urbi et Orbi") oder an historischen Rathäusern, seltener auch an Bürgerhäusern, deren Besitzer dem Rest der Stadt einst zeigen wollten, wo der Barthel den Most holt. Die Größe des Balkons oder seine Bequemlichkeit spielen dabei eine untergeordnete Rolle. In aller Regel steht man hier dicht an dicht - das reicht für kurze Ansprachen und vor allem für huldvolles Winken.

In unseren modernen Zeiten ist der "Erscheinungsbalkon" deswegen zur optimalen Bühne für frisch aufgestiegene Sportmannschaften geworden. Jeder in Deutschland kennt die Szene (mancher hasst sie auch), wenn die Fußballer des FC Bayern in München den Rathausbalkon entern und einer Menschenmenge auf dem Marienplatz die Meisterschale entgegenstrecken. Längst kopieren die anderen Klubs diesen glanzvollen Auftritt. Als in diesem Sommer zum Beispiel der VfB Eichstätt in die Fußball-Regionalliga aufstieg, da folgte nach dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt selbstverständlich der Termin auf dem schmalen Rathausbalkon. Unten standen zwar nur ein paar Leute, aber es ging hier mehr ums Foto. Denn fast jeder Eichstätter kennt das Bild vom 26. Juli 1993, als Michail Gorbatschow, ehemaliger Parteivorsitzender und Staatspräsident der Sowjetunion, auf genau diesem Balkon stand. Anlass des Besuchs damals: 170 Jahre Sparkasse Eichstätt. Knapp vier Jahre vorher hatte ebenfalls eine Balkonszene den Untergang des Gorbatschow-Imperiums eingeleitet: Auf dem Balkon des Palais Lobkowicz, der deutschen Botschaft in Prag, sprach der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher am Abend des 30. September 1989 zu den verzweifelten DDR-Flüchtlingen den Satz: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . ." Der Rest ging im Jubel unter.

So dramatisch geht es aber selten zu auf den Balkonen. Manchmal ist es sogar romantisch. In Pfaffenhofen etwa wird der Rathausbalkon am Hauptplatz jedes Jahr im Advent für das sogenannte "Engelspiel" genutzt, den Auftritt singender himmlischer Boten. Es kam im Mai 2014 aber auch ein japanischer Lehrer eigens nach Pfaffenhofen, um von diesem Balkon aus mit der Ukulele ein paar Lieder zu spielen - darunter "Stille Nacht". Bürgermeister Thomas Herker konnte es kaum fassen: "Da kommt jemand von so weit her, um hier auf dem Balkon zu spielen - unglaublich!"

Was aber tun, wenn es ein großes Ereignis gibt, aber keinen passenden Balkon? Als in der Gemeinde Aresing südlich von Schrobenhausen heuer an Pfingsten die Fußballer des BCA in die A-Klasse aufgestiegen waren, wurde kurzerhand ein großes Podest an der Fassade der blanken Rathauswand aufgebaut und offiziell zum "Rathausbalkon" erklärt - schon gab es einen würdigen Platz für die Erfolgskicker zum Winken.

In Ingolstadt wiederum stellt sich das Problem, dass der Architekt Gabriel von Seidl den Balkon am Alten Rathaus leider nur mit sehr kleinen Innenmaßen anlegte: Knappe vier Meter breit und ganze 60 Zentimeter schmal: Für die Eishockeyspieler vom ERCI reichte das früher mit Müh und Not, und auch der Aufstieg des FCI in die Zweite Fußballbundesliga wurde noch auf dem Rathausbalkon zelebriert. Aber inzwischen lässt die Stadt lieber am Rathausplatz eine professionelle Bühne aufbauen. "Der Stimmung der Ingolstädter Fans tut dies keinen Abbruch!", sagte der städtische Pressesprecher Michael Klarner zum Verzicht auf den unpraktisch kleinen Balkon. Zur Zeit des Architekten von Seidl im 19. Jahrhundert seien moderne Meisterfeiern in Mannschaftssportarten halt "noch gänzlich unbekannt" gewesen.

Stimmt schon. Aber irgendwie ist eine Bühne dann doch nicht dasselbe wie ein "Erscheinungsbalkon". Die Queen in London kennt den Unterschied. Und die Jamaika-Unterhändler in Berlin offenbar auch. ‹ŒDK