Zürich
Der kalkulierte Irrsinn

Die Kunstwelt begeht den 100. Geburtstag der Dada-Bewegung Zürich feiert 165 Tage lang im "Cabaret Voltaire"

12.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:12 Uhr

Foto: DK

Zürich (DK) 5. Februar 1916. Über Europa herrscht Dunkelheit und auf den Schlachtfeldern von Verdun orchestriert das Knattern der Gewehre den sinnlosen Tod. In Zürich tanzen, malen, schreiben sie. Mitten im massenhaften Sterben ist die Stadt wie ein leuchtender Stern der Freiheit und zieht Maler, Literaten, Bildhauer, Tänzer und Revolutionäre aus ganz Europa an.

In der Spiegelgasse 1 gründen sie die Künstlerkneipe Cabaret Voltaire und die Dada-Bewegung. Kunsthistoriker werden sie später als den "Urknall der Modernen Kunst" bezeichnen. Den Paukenschlag verursacht hatten Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp.

Sie wollten nicht weniger als ewige Seligkeit, Berühmtheit und mit vergnüglichem und kalkuliertem Irrsinn die Auflösung eines Wertesystems, das sich längst selbst pervertiert hatte. Dem hält Hugo Ball in seinem Gedicht "Karawane" schlicht ein "lifanto blambla o falli bambla" entgegen. Sie zogen mit Laut- und Simultangedichten, Maskentänzen und wilden Performances, mit Collagen und grotesker Selbstinszenierung gegen die Chiffren der Sinnlosigkeit des Ersten Weltkrieges und wollten, wie Hugo Ball sie nannte, diese "unnennbare Zeit, mit all ihren Rissen und Sprüngen, mit ihren bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten" auf den Kopf stellen. "Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit", verkündete Ball in seinem Manifest am 14. Juli 1916.

Bis zur Bewusstlosigkeit feiert die Stadt Zürich nun 100 Jahre Dada. Im Herzen der nasskalten Stadt rüstet sich der neue Morgen. 6.30 Uhr im "Cabaret Voltaire". Adrian Notz, der Direktor der Geburtsstätte des Dada, tut das, was ein zeitgenössischer Dadaist wohl nicht täte. Er ist sehr früh aufgestanden, um der Kunstwelt die Geburtswehen des Dada zu vermitteln. Nein, wer Dada leben will, dem empfiehlt der Kunsthistoriker und Kurator "nichts zu tun", weil Dada Nichts bedeutet. "Ich glaube", sagt er in einem Interview mit dem SWR, "wenn man heute nichts tut oder wie Hugo Ball es sagte, ,sich orgiastisch dem Gegenteil all dessen hingibt, was nutzbar und brauchbar ist €˜, dann kann man wie Richard Huelsenbeck es später in der ersten Dada-Erklärung formulierte, ,eigentlich mit Nichts die Welt verändern €˜."

Notz hat sich im Jubiläumsjahr für das Gegenteil entschieden. Er wird 100 Jahre Dada "ganz bewusst und orgiastisch" mit Blick in die Geschichte feiern. Mit seinem prallen Programm will er das "Cabaret Voltaire" wieder zu dem machen, was es vor 100 Jahren war: "eine Künstlerkneipe und ein freier Ort für zeitgenössische Kunst."

Im Morgengrauen dieses Jubiläumstags hält er das erste Offizium für Armada von Duldgedalzen. Eigentlich hieß sie Luise Straus-Ernst und war die erste Ehefrau von Max Ernst. Es ist der Auftakt für 165 Offizien, die Notz bis zum 18. Juli absolviert. Das morgendliche Stundengebet ehrt jeden einzelnen Dada-Künstler mit Gedichten oder Texten. Es werden Manifeste rezitiert, getanzt oder das Werk vorgestellt. Am Abend wird gefeiert mit Soireén bis weit in die Nacht hinein.

Am Nachmittag ist die Sonne aufgegangen über dem "Cabaret Voltaire". Notz eröffnet zusammen mit der Künstlerin und Co-Kuratorin Una Szeemann die Ausstellung "Obsession Dada". Sie basiert auf Dokumenten aus dem Archiv des bekannten Kurators der Berner Kunsthalle und der documenta 5, Harald Szeemann. "Ich sehe diese Ausstellung als eine Entdeckungsreise zu den vielen Intensionen von Obsessionen. Und auf diesem Weg begegne ich vielen schönen Inseln", sagt seine Tochter Una Szeemann.

Schon kurz vor der Eröffnung drängen sich Dada-Anhänger in jeden Winkel der ehemaligen Meierei. Kurz nach der Ausstellungseröffnung im Shop schiebt sich der Dada-Strom die enge Treppe hinab in die Krypta des "Cabaret Voltaire". Wo bisher Ausstellungen stattfanden, hat Una Seemann eine gewaltige Kupferbühne konzipiert. Hier werden in den kommenden Wochen unterschiedliche Künstler ihre "Obsession Dada" ausleben.

Am Abend dann die Eröffnung mit der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch. Mit ihrem Pappmegafon, eine Anspielung auf "Stapi" Landolt, der 1966 zum 50. Jubiläum durch ein echtes Megafon proklamierte, sucht sie nicht nur äußerlich die Nähe zu Dada. Von ihr stammt der wohl bemerkenswerteste Satz an diesem Abend: "Zürich ist durch seine Immigranten und Zuwanderer stets bereichert worden." Das war der "Dada-Funke", der im Jetzt zünden sollte.