Ingolstadt
Wie entsteht eigentlich ein Spielplan?

29.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:25 Uhr
Diskutieren über das Motto, Stoffe, Stücke, Regisseure, Besetzungsfragen: Chefdramaturg Donald Berkenhoff (von links), Julia Mayr, Leiterin des Jungen Theaters, und Intendant Knut Weber beraten jetzt schon über den Spielplan 2018/19. −Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) „Wir sind das Volk“, hat das Stadttheater Ingolstadt als Motto der neuen Saison gewählt – ein Zitat aus Georg Büchners „Dantons Tod“. An diesem Samstag bekommt das Publikum im Spielzeitcocktail einen ersten Überblick über die 21 Produktionen, zu denen sich noch musikalische Gastspiele gesellen – und ein „Futurologischer Kongress“. Aus welchen Elementen besteht ein Spielplan? Wie werden Stücke, Regisseure, Schauspieler und Spielstätten ausgewählt? Und was unterscheidet den Ingolstädter Spielplan von anderen?

Nach dem Spielplan ist vor dem Spielplan. Zwar wird derzeit gerade auf Hochtouren an den ersten Premieren der neuen Spielzeit (allein fünf sind es im Oktober) gearbeitet, trotzdem machen sich Intendanz und Dramaturgie schon Gedanken über die Saison 2018/19. „Die Theaterverlage, die die neuen Stücke herausbringen, arbeiten ja das ganze Jahr“, sagt Knut Weber, seit 2011 Intendant in Ingolstadt. „Neben den neuen Stücken verfügt jeder von uns über einen Fundus an Stücken, dazu kommen immer Vorschläge an Texten, die man vielleicht nicht richtig oder vor langer Zeit gelesen hat. Wir reden über Stoffe, wir reden über ein Motto. Und das Ganze muss man sich als ,work in progress‘ vorstellen.“ Die erste Sitzung zum neuen Spielplan beginnt nicht bei null. Im Gespräch ist man permanent.

Aber der Reihe nach: Jeder Spielplan verfügt über eine bestimmte Struktur. 21 Produktionen sind im aktuellen Spielplan insgesamt geplant: acht im Großen Haus, vier im Kleinen Haus, zwei im Studio, eine im Freilicht, fünf im Jungen Theater. Dazu kommt im Frühsommer der „Futurologische Kongress“, ein „multimediales Infotainment-Spektakel“, bei dem sich Publizisten, Wissenschaftler, Ingenieure, Politiker und Künstler mit zentralen Zukunftsfragen der Gesellschaft auseinandersetzen. Und da in Ingolstadt nur das Sprechtheater beheimatet ist, wird der Spielplan durch Musik- und Tanzgastspiele abgerundet.

Aber wie setzt sich ein guter Spielplan zusammen? „Ich habe es noch so gelernt, dass es ein gewisses Gerüst gibt: ein antikes Stück, ein Elisabethaner (zumeist Shakespeare-Stücke, Anm. d. Red.), ein deutscher Klassiker und mindestens eine Uraufführung“, erklärt Knut Weber. „Im Prinzip stimmt das auch noch.“ Natürlich gibt es auch den Blick in die Vergangenheit: Was wurde an diesem Haus schon gespielt? Welche Werke hält man für wichtig? Unter Webers Intendanz haben die zeitgenössischen Autoren größeres Gewicht im Spielplan bekommen. Gerade das Kleine Haus hat sein Profil als Spielstätte für moderne Stücke geschärft. Den Uraufführungs-Hype anderer Häuser will man in Ingolstadt jedoch nicht mitmachen. „Leider ist es in Deutschland so, dass viele Uraufführungen nur einmal gespielt werden“, sagt Chefdramaturg Donald Berkenhoff. „Wir wollen lieber die zweiten oder dritten sein, die ein gutes Stück spielen, als dass man eine mittelgute Uraufführung an Land zieht.“ Bei Kate Tempests Stück „Wasted“ etwa war es so, dass sich das Stadttheater Ingolstadt sehr früh für die Aufführung interessierte. So früh, dass vom Verlag die Auskunft kam: „Ihr seid die Ersten, in Ingolstadt könnte die deutschsprachige Erstaufführung stattfinden.“ Kurze Zeit später ging die junge britische Rapperin und Theaterautorin Thema durch sämtliche Feuilletons – und „Wasted“ stand plötzlich auf vielen Spielplänen, berichtet Berkenhoff.

Ein weiteres Entscheidungskriterium: Welchen lokalen Bezug gibt es – z. B. was Autoren betrifft. „Marieluise Fleißer liegt da nah“, sagt Weber. So wurden etwa ihr Roman „Eine Zierde für den Verein“ dramatisiert und Theaterberserker Johann Kresnik für eine Fleißer-Choreografie engagiert. „Aber es gibt auch spezifische Themen und Orte, auf die wir unser Augenmerk legen.“

Im Jungen Theater gibt darüber hinaus auch das Alter eine bestimmte Struktur vor. Denn Julia Mayr und ihr Team wollen Stücke für alle Altersgruppen anbieten – vom Babytanz bis zum Jugendstück. Ihr Team arbeitet auch mit den Schulen zusammen, die oftmals bestimmte Themen gern auf dem Spielplan sähen. „Cyberlove“ ist hier etwa ein gutes Beispiel. Denn aus der Lehrerschaft kam der Wunsch nach einem Stück zum Thema Cybermobbing.

Wie wichtig ist eigentlich die Quote? „Wir kennen unsere Abonnenten und auch ein bisschen die Erwartungen. Und natürlich wollen wir unterhaltende Stücke präsentieren und Musicals und Operetten. Das gehört dazu“, sagt Knut Weber. „Das Geheimnis ist der Facettenreichtum. Das ist die Aufgabe eines Stadttheaters. Wir sind das einzige Haus in der Region. Wir müssen Vielfalt zeigen. In München oder Berlin, wo es viele Theater mit unterschiedlichen Profilen gibt, ist das anders.“ Zum Facettenreichtum zählen auch verschiedenartige Regie-Handschriften. „Das ist interessant für das Publikum wie für das Ensemble“, sagt Weber. Insofern werden Regisseure, die das Team interessant findet, relativ frühzeitig in die Spielplandiskussion eingebunden. „Das Publikum hat sich in den vergangenen Jahren durchaus verändert“, hat Weber festgestellt. „Es gibt für bestimmte Genres ein bestimmtes Publikum. Aber die überschneiden sich nicht unbedingt.“

Theater für Ingolstadt zu machen heißt aber nicht nur, „das eine oder andere Projekt Ingolstadt-spezifisch zu denken“ (schon länger ist eine Produktion zum Thema Mobilität und Monokultur geplant), sondern vor allem auch die Stadt zu bespielen. Und das tun Knut Weber und seine Mannschaft mit großer Intensität. So waren nicht nur die Eröffnungsspektakel der ersten Jahre („Schlaflos in Ingolstadt“, „Geheime Gärten“) große Erfolge, auch für andere „Downtown“-Projekten gibt es viel Interesse. In der aktuellen Spielzeit geht es für George Brants Stück „Am Boden“ über die bizarren Auswüchse virtueller Kampftechniken an den Hangar 3 am Flughafen Manching. Und wann kommen die Schauspieler ins Spiel? „Die hat man schon bei der Stückauswahl im Blick – auch mit Alternativen“, erklärt Donald Berkenhoff. Zum einen hängt die Besetzung mit den Regiekonzepten zusammen, zum anderen „müssen bei einem guten Ensemble alle Schauspieler das Gefühl haben, in ihrer Altersklasse gleichberechtigt zu spielen“. „Besetzungsfragen sind das Heikelste überhaupt“, wirft Weber ein. „Irgendwann, wenn man sich geeinigt hat, schreibt man alle Rollen untereinander, und dann merkt man: Da fehlen noch fünf Positionen, da braucht man Gäste. Dann kommt der Verwaltungsdirektor ins Spiel. Und das Künstlerische Betriebsbüro. Und irgendwann wird aus dem Spaß des Stückelesens und Neue-Stoffe-Entdeckens wirklich nur noch Mathematik“, stöhnt der Chefdramaturg.

Und immer geht es auch um Geld. 12 Millionen Euro umfasst der Etat des Stadttheaters für 2017 (wobei immer nach Kalenderjahr, nicht nach Spielzeit gerechnet wird). Davon müssen allerdings 74 Prozent für Personalkosten aufgewendet werden. Die Ausstattung (Bühne und Kostüme) für eine Produktion im Großen Haus schlägt laut Weber im Durchschnitt etwa mit 8000 Euro zu Buche. Heuer startet man im Großen Haus mit „Fall der Götter“ – auch weil der Ingolstädter Spielplan insgesamt sehr politisch ist. „Wir wollten, dass das Stück zeitnah zur Wahl herauskommt“, erklärt Berkenhoff, der bei dem Stück nach Luchino Viscontis Film „Die Verdammten“ Regie führt. „Das Theater ist ja ein gesellschaftlicher Reflexionsraum. Es gehört zum Auftrag des Theaters, Debatten zu führen“, sagt Weber. „Aber nach diesem Beginn und nach ,Stella‘ muss sofort ,Der nackte Wahnsinn‘ kommen – das erfordert die Dynamik einer Spielzeit.“

Spielzeitcocktail

Mit dem „Spielzeitcocktail“ startet das Stadttheater Ingolstadt an diesem Samstag in die neue Saison. Dann macht das Ensemble mit musikalischen und szenischen Programm-Häppchen Appetit auf die Spielzeit 2017/18. Gezeigt werden kurze Ausschnitte aus den geplanten Produktionen – oder auch mal sehr freie Assoziationen dazu. Die Moderation liegt in den Händen von Heiner Kondschak, der auch die Laudatio auf den neuen Träger des Rotary-Theater-Publikums-preises halten wird, den das Publikum aus den Künstlern der vergangenen Saison kürte. Um die Spannung zu erhöhen, wird das Geheimnis um den Preisträger erst gegen Ende der Show gelüftet. Gleich danach geht es dann ans größte Büfett der Stadt. Im vergangenen Jahr war es 22 Meter lang und präsentierte etwa 280 Speisen – zubereitet und gestiftet vom Publikum. Denn der Eintritt zum „Spielzeitcocktail“ besteht traditionell aus einem kulinarischen Beitrag zum legendären Buffet. Die Einlasskarten waren übrigens nach wenigen Stunden weg. DK