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Mensch Bruce

Erfrischend ehrlich: Der Rockmusiker Bruce Springsteen veröffentlicht seine Autobiografie "Born to Run"

30.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:14 Uhr

Stolz auf sein erstes Album: Im Januar 1973 erschien Bruce Springsteens Debüt-LP "Greetings From Asbury Park, N.J.", die er hier stolz in seinen Händen hält. Sie war seinerzeit ein Flop und verkaufte sich im ersten Jahr nur 25 000 Mal. - Foto: Art Maillet/Heyne

Wer schon immer dachte, dass mit einem Kerl etwas nicht stimmen kann, der in der westlichen Welt als Held der Arbeiterklasse gilt und gleichzeitig Multimillionär ist, der findet hier endlich die Bestätigung. Der amerikanische Rockmusiker Bruce Springsteen hat höchstens eine Woche mit "echter" Arbeit verbracht - in seinem ganzen bisherigen Leben, wie er augenzwinkernd anmerkt.

Momente wie diesen gibt es in Hülle und Fülle in seiner frisch veröffentlichten Autobiografie "Born to Run". Der 67-jährige Familienvater aus New Jersey hat sieben Jahre an diesem lesenswerten Wälzer gearbeitet und lässt keine Phase seines ereignisreichen Lebens aus. Auf über 600 Seiten erzählt er natürlich über seine erste große Leidenschaft, die Musik: seine erste Gitarre, die ersten Auftritte mit einer Band bestehend aus wild entschlossenen Jungs. Von denen war aber er derjenige, der sich entschieden hatte, es seinen kleingeistigen katholischen Lehrern zu zeigen und ausschließlich von der Musik zu leben. Ganz oder gar nicht. Wenn er mit seinen Gigs nicht genug verdiente, musste der Magen eben knurren. "Richtige" Arbeit kam nicht in Frage. Zum Glück fallen seine kräftezehrenden Konzerte für ihn in eine andere Kategorie. Springsteen erzählt, weshalb die Konzerte immer länger wurden, und er berichtet über die Arbeit an seinen Studio-Alben, vom Debüt "Greetings From Asbury Park, N.J." bis "High Hopes".

Diese beiden Säulen, Konzerte und Alben, bilden das Herz seines Schaffens, sie sind das, was man hören, erleben und greifen kann. Man kann die Texte in den CD-Booklets nachlesen und an manchen Stellen vielleicht Parallelen zu seinem eigenen Leben erkennen. Das war schon immer Springsteens große Kunst: Ein Lied wie "You're Missing" kann man natürlich im Kontext zu 9/11 hören, in dessen Aufarbeitung es entstand. Es funktioniert aber auch mit jedem anderen Verlust, den man selbst erlitten hat. Das Gefühl, dass da jemand nicht mehr heimkommen wird, obwohl nicht nur seine Liebsten, sondern auch jeder Gegenstand, jede Kaffeetasse, sein Lieblingssessel auf ihn zu warten scheinen.

Einen großen Raum in der Autobiografie nimmt sein 1998 verstorbener Vater ein. Doug Springsteen war als Vater zumindest ein Kauz, der nach Bruces Gefühl "keine 1000 Worte" während seiner Kindheit mit ihm gesprochen hat. Dass ihr Verhältnis nicht einfach war, ahnte man schon nach dem ersten Hören von "Independence Day" (von "The River", 1980) oder "My Father's House" (von "Nebraska", 1982). Der Sohn suchte später, als er schon längst berühmt war, sogar einen Therapeuten auf, der ihm die Augen öffnete. Es sind Passagen wie diese, in denen Bruce Springsteen verletzlich wirkt und die Erlebnisse mit seinem Vater so schildern kann, dass manchem Leser die Tränen kommen werden, der Ähnliches mitgemacht hat.

Die größte Stärke dieser von vorn bis hinten erfrischend ehrlichen Veröffentlichung ist es, dass der Mann, der vielen dank Stirnband-Look, Muskelshirt und laut gebrülltem "Born In The U.S.A."-Refrain als der starke Amerikaner schlechthin gilt, kein Problem damit hat, seine Fehler und Schwächen zu zeigen. Er versteckt sie nicht, obwohl er in all den langen Jahren seiner Karriere nie mit seinem Privatleben hausieren ging. Es gab keine "home stories" und kaum Klatsch, nicht mal aus seinem Umfeld. Er wollte Musik machen, Konzerte geben, die Massen zum Toben bringen - aber nicht um jeden Preis. Springsteen wollte er selbst bleiben und nicht so einsam enden wie sein erster großer Held, Elvis Presley.

Sogar seinen Kampf mit Depressionen und zu viel Alkohol enthüllt er erstmals öffentlich, wohl auch um diese Dämonen damit im Zaum zu halten. Seinen Halt im Leben fand er bei seiner zweiten Ehefrau, Patti Scialfa. Drei erwachsene Kinder haben die beiden, dazu eine Farm in New Jersey und so etwas wie eine Zweitfamilie: Die E Street Band.

Über die Jahre wurde dieser einst wilde Haufen oft überhöht und mystifiziert. Doch diese Band ist größer als die Summe ihrer Mitglieder, das weiß auch Springsteen. Nach einer fast zehnjährigen Pause scharte er die Musiker 1999 endgültig wieder um sich. So kurzweilig deren Konzerte trotz ihrer mitunter vier Stunden sind, so liest sich auch dieser dicke Schmöker voller Erinnerungen, Anekdoten, Einsichten und selbstkritischer Bemerkungen. Manches Lied wird man nachher anders hören, manche Stelle im Text offenbart sich erst jetzt. Dabei plaudert Springsteen in den kurzen Kapiteln so, wie man ihn aus Interviews kennt, nimmt sich selbst nicht immer wichtig, seine Familie und seine großartige Kunst hingegen schon. Und siehe da: Er ist nicht nur ein Rockstar, sondern kommt als Mensch daher.

Humor und Herz hat der Mann, der viel mehr ist als der Patriot, auf den ihn viele engstirnige Amerikaner gern beschränken würden, jedenfalls reichlich. Und vielleicht entlockt die eine oder andere Stelle sogar Papa Doug irgendwo dort oben ein kleines, stolzes Schmunzeln darüber, was aus seinem einst schmächtigen Jungen geworden ist: ein Mensch, der etwas zu erzählen hat und dem man gern zuhört.

"Born to Run" ist im Heyne-Verlag erschienen. Die gebundene Ausgabe kostet 27,99 Euro, außerdem gibt es eine E-Book-Version und ein Hörbuch, gelesen von Thees Uhlmann, Sänger der Hamburger Band Tomte. Das zum Buch erschienene Album "Chapter and Verse" (CD, Vinyl und MP3) beinhaltet fünf bisher unveröffentlichte Songs Springsteens - und 13 seiner bekanntesten.