Umschlagplatz der Gegenwartsliteratur

30.08.2010 | Stand 03.12.2020, 3:44 Uhr

Ludwig Fels, aus Treuchtlingen stammender Schriftsteller, liest beim 30. Erlanger Poetenfest im Schlossgarten vor der historischen Kulisse des Markgrafenschlosses. - Foto: Bröder

Erlangen (DK) Als im Sommer des Jahres 1980 im idyllischen Burgberggarten in Erlangen eine Handvoll nordbayerischer Schriftsteller vor kaum mehr als 500 literarisch Interessierten ihre meist noch nicht einmal veröffentlichten Texten lasen, hätten weder die Initiatoren noch das spärliche Publikum damals vorauszusagen gewagt, dass mit diesem "1. Erlanger Poetenfest" eines der wichtigsten deutschsprachigen Literaturfestivals aus der Taufe gehoben worden war.

Jetzt, 30 Jahre später, blickt das mittlerweile etablierte und höchst renommierte Erlanger Poetenfest, das seit 1993 im Erlanger Schlossgarten auf der grünen Wiese residiert, zu seinem Jubiläum auf eine Tradition zurück, die ihresgleichen sucht – und kann mit beachtlichen Zahlen und Fakten aufwarten. Denn nicht nur lasen in all den Jahren in Erlangen spätere Georg-Büchner-Preisträger oder gar eine Nobelpreisträgerin wie Herta Müller, nicht nur gaben sich jeweils die Preisträger des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Erlangen ein Stelldichein oder debütierten Dutzende von jungen Autoren beim Poetenfest mit Lyrik und Prosa oder fanden gar ihren ersten Verleger, sondern es fanden sich in den 30 Jahren mitten in den Sommerferien auch mehr als 300 000 Zuhörer zu den Lesungen und Diskussionen bei den insgesamt 1278 Schriftstellern, Publizisten und Essayisten ein.

Eine stolze Bilanz also, die in diesem Jahr das Bayerische Kultusministerium erstmals mit einem Zuschuss von 15 000 Euro (bei einem Gesamtetat des Festivals von 150 000 Euro) honorierte und die IHK Mittelfranken mit ihrem (mit 10 000 Euro ausgestatteten) Kulturpreis bedachte. Dabei hat sich das Erlanger Poetenfest längst weit über die Region und Nordbayern hinaus einen Ruf gemacht.

Den Auftakt gab in diesem Jahr wiederum eine (vom Bayerisch Rundfunk veranstaltete) lange Lyrik-Nacht, die lyrische Leicht- und Schwergewichte einander konfrontierte: Da trafen dann einstige DDR-Autoren wie Volker Braun und Durs Grünbein auf die Hip-Hop-Generation von Thomas Meinecke und Ulrike Almut-Sandig, die sich als lyrisches Lena-Pendant entpuppte und görenhaft ihre poetische Befindlichkeit ausstellte, während Raoul Schrott kenntnisreich ethnologische Liebeslyrik aus sieben Jahrtausenden vorstellte.

Dass die Bürde einer ausgereiften Biografie der Leichtigkeit des jugendlichen Seins auch literarisch noch immer überlegen ist, stellten die einstigen DDR-Schriftsteller Volker Braun und Hans Joachim Schädlich ebenso unter Beweis wie der in Israel geborene deutsch-jüdische Publizist und Romancier Rafael Seligmann: Ob in Vers oder Prosa, als Tagebuch oder Essay gerinnt ihnen deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts zu Literatur, die etwas zu sagen hat und dies auch sprachlich in Form und Stil zu gießen versteht.

Die literarische Provinz kam bei der Podiumsdiskussion "Franken und die Welt" nicht zu kurz, bei der es um die "Rolle der Region in der literarischen Öffentlichkeit" ging. Dabei erteilten die aus dem Frankenwald stammende Dramatikerin Kerstin Specht und die bundesweit beachtete Nürnberger Autorin Christiane Neudecker ihrer biografisch fränkischen Heimat insofern eine Absage, als sie eine "literarische Heimat" für sich in Anspruch nahmen, die nicht durch provinzielle Provenienz, sondern durch Qualität besticht. Dagegen führte der im heimischen Dialekt schreibende Helmut Haberkamm das Idiom der fränkischen Mundart ins Feld, die auch nicht aufs Maul gefallen ist, sich freilich sprachlich auf die Region beschränkt, die man nicht mit "literarischer Provinz" gleichsetzen sollte.

Dem Interesse des lese- und literaturfreudigen Publikums draußen im sommerlichen und manchmal regendurchschauerten Schlossgarten taten solche Feinsinnigkeiten keinen Abbruch: Unter den alten Bäumen des Parks lauschte wahlweise ergriffen oder erheitert, gespannt oder zuweilen auch gelangweilt den Dutzenden von Dichtern, die aus ihren neuen Texten lasen und ihr Publikum ganz ohne Internet in die virtuellen Welten der Fantasie entführten.