Toronto
"Ich bin der langsamste Schriftsteller"

John Irving über sein Schreibtempo, die Kirche, sexuelle Toleranz sowie über seinen neuen Roman "Straße der Wunder"

30.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:36 Uhr

Toronto (DK) Der US-Schriftsteller John Irving hat mit seinen Romanen oft gesellschaftliche Debatten befeuert, so zum Beispiel mit "Gottes Werk und Teufels Beitrag" die Diskussion über Abtreibung. Sein aktueller Roman "Straße der Wunder" erzählt vom Schriftsteller Juan Diego, der als Kind auf einer Müllkippe lebte und beschäftigt sich dabei auch mit den Themen Glaube und Kirche.

Mr. Irving, wir erleben seit einiger Zeit wieder eine Debatte um Glauben und Religion. Was kann Ihr Roman, der sich auch mit der katholischen Kirche befasst, zur Diskussion beitragen?

John Irving: Ich mache im Buch ja einen Unterschied zwischen dem Glauben und der Institution Kirche, den menschengemachten Regeln, den Strategien und der Politik. Diese Unterscheidung macht Juan Diego schon als Kind, genauso wie seine Schwester Lupe, sie stehen der Institution Kirche sehr kritisch gegenüber. Aber Juan Diego ist ein Kind des Glaubens, ihm erscheint auch ein echtes Wunder, eine Jungfrauen-Statue, die Tränen vergießt.

 

Ein Wunder mit Folgen . . .

Irving: Ja, ohne diese Tränen hätte die katholische Kirche wahrscheinlich nicht diesen 14-jährigen Waisen in die Hand von zwei schwulen Männern gegeben. Sprich, dafür, dass ein Waise, der in der Obhut der katholischen Kirche ist, von zwei schwulen Männern adoptiert werden darf, braucht es ein Wunder. Wunder bilden ja den Kern jeder Religion. Mohammed ist ein Wunder, genauso Maria und Jesus. Aber es besteht eben ein Unterschied zwischen dem Glauben an diese Wunder und den schrecklich unzeitgemäßen Regeln und Politiken aller Kirchen. Die werden nicht dem gerecht woran die Menschen tatsächlich glauben.

 

Worin konkret sehen Sie die Gegensätze?

Irving: In Nordamerika glauben die meisten Katholiken an das Recht einer Frau auf Abtreibung, und die meisten Katholiken befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe. Ihre Kirche tut es nicht. Die meisten gläubigen Katholiken glauben anders als ihre Kirche. Die Kirchen, Synagogen oder Moscheen sind ja selten leer, die Leute kommen und beten, sie bitten um etwas. Sie bitten aber nicht den Rabbi, den Mullah oder den Priester. Deswegen sagt auch Juan Diego, als die Jungfrau weint, zum Priester: "Ich komme hierher wegen der Jungfrau, nicht wegen Ihnen." Damit spricht er für viele Menschen.

 

Ein anderer Priester in Ihrem Buch verliebt sich in eine Transgender-Prostituierte. Schon vor vielen Jahren haben Sie über unterschiedliche sexuelle Orientierungen geschrieben - fühlen Sie sich manchmal Ihrer Zeit voraus?

Irving: Ich habe mich immer dafür interessiert, wie die Leute aufgrund von sexuellen Unterschieden misshandelt, falsch verurteilt oder abgelehnt werden. "Garp und wie er die Welt sah", vor 40 Jahren geschrieben, war ein Roman über sexuellen Hass, es war damals eine Reaktion auf etwas, das bis heute Bestand hat: das Scheitern der sogenannten "sexuellen Revolution".

 

Warum ist diese Revolution gescheitert?

Irving: Wenn man das, was damals geschah, eine "Revolution" oder "Befreiung" nennt - wovon zum Teufel reden wir dann? Warum hassen sich die Leute dann immer noch für ihre unterschiedlichen sexuellen Orientierungen? Warum werden sexuelle Minderheiten dann immer noch verhöhnt und abgestempelt?

 

Wie haben Sie damals über diese Zustände gedacht?

Irving: Ich dachte: Das wird mit der Zeit verschwinden, ich war überzeugt, dass "Garp und wie er die Welt sah" nach zehn Jahren ein historischer Roman wäre. Aber dem ist nicht so. Ich betrachte mich selbst nicht als hellseherisch oder meiner Zeit voraus. Ich habe damals über etwas geschrieben - und das tue ich oft - weil ich mich darüber geärgert habe.

 

"Garp" wird nun sogar wieder zum Leben erweckt, im TV. Freut es Sie, dass der US-Sender HBO Ihr Buch als Serie verfilmt?

Irving: Ich bin nicht zwingend glücklich darüber. Ich hätte den Roman für diese Serie nicht adaptiert, wenn ich überzeugt gewesen wäre, dass sexuelle Unterschiede heute umfassend toleriert werden. Das werden sie aber nicht. Sexuelle Intoleranz ist nicht verschwunden. Kürzlich stand in der "New York Times", dass die Republikaner Transgender-Kinder von den Toiletten fernhalten wollen - das letzte Mal, als wir Menschen von Toiletten fernhalten wollten war zur Zeit der Rassentrennung. Insofern: Es hat sich nicht viel verändert, was Toleranz und Akzeptanz betrifft. Deswegen schreibe ich immer noch drüber.

 

Würden Sie sagen, dass Sie als Autor auch eine gewisse Verantwortung tragen?

Irving: Nein. Wenn ich das als "Verantwortung" bezeichnen würde, würde das ja bedeuten, dass ich von jedem Autor verlange, es mir gleichzutun. Aber so sehe ich Schriftstellerei nicht. Ich mag es nicht, wenn Autoren sagen: Meine Art zu schreiben ist die richtige. Oder: Wie ich Dinge betrachte, sollten alle Autoren die Dinge betrachten. So habe ich nie gedacht.

 

Ihr Anspruch an sich selbst scheint aber ein anderer zu sein . . .

Irving: Ganz ehrlich: Von meinen 14 Romanen, wie viele davon waren wirklich politisch? Wenn man Sexualpolitik hinzunimmt, sind es sieben, das ist nur die Hälfte und wenn man die Sexualpolitik rauslässt, nur fünf. Ich fühle da keinerlei Verpflichtung.

 

Auch nicht die Verpflichtung, Ihre Leser vor Politikern wie Donald Trump zu warnen?

Irving: Sie müssen bedenken, dass ich für die meisten meiner Romane acht bis zehn Jahre gebraucht habe, wahrscheinlich bin ich der langsamste Schriftsteller, den es gibt. Wenn ich also die ersten Zeilen verfasse, dann schreibe ich nicht über so ein aktuelles Phänomen wie Donald Trump. Mein Interesse an Mexiko und der Geschichte eines Amerikaners mit mexikanischen Wurzeln ist 25 Jahre älter als Mr. Trumps blöde Idee, eine Mauer zu bauen.

 

"Straße der Wunder" beschäftigt sich auch mit dem Thema Tod. Wie sehr hat Ihnen das Schreiben beim Umgang mit der eigenen Sterblichkeit geholfen?

Irving: Ich denke nicht über meine eigene Sterblichkeit nach, ich verknüpfe auch nicht die Geschichte von Juan Diego mit mir. Mir ist es nicht egal, wie meine Romanfigur am Ende stirbt, da wäge ich schon sehr genau ab. Aber mir Gedanken über meinen eigenen Tod zu machen, dafür bin noch zu sehr beschäftigt (lacht). Ich habe zwei Romane im Kopf, die ich morgen anfangen könnte, wenn ich nicht schon an etwas anderem schreiben würde, und ich weiß auch schon, was der dritte Roman sein wird.