Stuttgart
"Wir müssen uns einmischen"

Diskussion über "Theater von morgen": Regisseurin Brigitte Dethier spricht über eine Gesellschaft im Umbruch

19.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:18 Uhr

"Wir dürfen nicht überteuerte Jugendzentren werden", meint Brigitte Dethier. "Die Kunst darf nicht zu kurz kommen." - Foto: Pingel

Stuttgart (DK) Den ersten Theaterbesuch hat Brigitte Dethier in ihrem Tagebuch festgehalten. Da war sie etwa zehn und schwärmte begeistert von "Mary Fairy Lady" im Hamburger Operettenhaus - mit Heidi Brühl und Paul Hubschmid. Es handelte sich natürlich um "My Fair Lady" - und war "so groß", dass es fortan um Brigitte Dethier geschehen war. Der Theatervirus hatte sie infiziert. Heu-te zählt sie zu den profiliertesten Regisseurinnen der deutschen Kinder- und Jugendtheaterszene. Und wird an der Podiumsdiskussion über "Theater von morgen" teilnehmen, die am Sonntag, 24. Januar, im Rahmen des "Horizonte"-Festivals stattfinden wird.

 

Frau Dethier, bevor wir den Blick in die Zukunft richten, lassen Sie uns doch mal über die Gegenwart sprechen. Wie finden Sie das Theater von heute?

Brigitte Dethier: Aufregend und spannend. Natürlich gibt es noch viele Felder, die man anders beackern kann, aber alles hat seine Zeit. Ich denke, wir vom Kinder- und Jugendtheater haben einen entscheidenden Vorteil: Wir tragen das Zielpublikum schon im Namen. Wir können es uns gar nicht leisten, das Publikum aus den Augen zu verlieren, sonst haut es uns die Vorstellung um die Ohren. Dadurch ist auch immer ein sehr direkter Kontakt zu dem gesellschaftlichen Jetzt gegeben.

 

Welche Aufgaben muss Theater leisten - und vielleicht in Zukunft noch mehr?

Dethier: Wir bewegen uns heute in einem ständigen Spagat. Denn wir sollen zum Teil auch gesellschaftliche, soziale Aufgaben, Integrationsaufgaben übernehmen. Und ich fürchte, dass wir uns manchmal zu viel auf die Schultern lasten, was wir mit Theater alles heilen könnten. Das Theater muss vor allem bewahren, was es ist: Wir machen Kunst für Kinder und Jugendliche und mit Kindern und Jugendlichen. Der Kunstbereich darf nicht zu kurz kommen. Wir dürfen nicht überteuerte Jugendzentren werden.

 

Inwiefern haben die neuen Medien das Publikum verändert? Ich denke da beispielsweise an schnelleres Erzählen, mehr Action, andere Erzählformen.

Dethier: Natürlich ändert sich mit der Zeit auch das Erzählen. Wenn man sich eine erste "Tatort"-Ausgabe ansieht und eine aktuelle, dann merkt man, wie sich Sehgewohnheiten verändert haben. Auch bei uns Machern. Deshalb erzählen wir anders. Das wirkt sich fort bis in die neue Regiegeneration. In jüngster Zeit gibt es spannende Diskussionen, wie stark performative Formen Einzug halten im Kinder- und Jugendtheater. Das hat mit dem Boom des Tanztheaters zu tun. Auch das assoziative Erzählen. Es herrschen auch mehr und mehr andere Dramaturgien vor. Es gibt nicht mehr den einen roten Faden, der sich mit dramaturgischem Spannungsaufbau zu einem Höhepunkt entwickelt, sondern mehrere Fäden - und nicht alle müssen zu Ende erzählt werden. Trotzdem: Das Theater ist über 2000 Jahre alt. Bei aller Veränderung glaube ich an die Kraft der Geschichten.

 

Wie schnell verändert sich Theater überhaupt?

Dethier: Ich habe das Gefühl, es gibt Wellenbewegungen, in denen sich neue Trends mal mehr, mal weniger durchsetzen. Eigentlich befindet sich das Theater in ständiger Veränderung.

 

Welche Themen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen, sollte das Theater verhandeln?

Dethier: Momentan herrscht die Flüchtlingsdebatte vor - und sie wird vieles mit sich ziehen. Da müssen wir uns einmischen. Ich denke, ein großes Thema ist die Um- und Neustrukturierung der Gesellschaft. Ich mache derzeit beispielsweise eine Produktion für Kinder ab fünf Jahre, in der es darum geht, wie man mit dem Fremden umgeht. Wir wollen das aber nicht in einer realistischen Übertragung auf die Bühne bringen, sondern versuchen, mit den Mittel des Clownspiel eine Fabel zu entwickeln. Denn das Theater muss ja mit seinen Mitteln arbeiten - und nicht eins zu eins Leben abbilden.

 

Soll gutes Theater Fragen stellen oder Antworten geben?

Dethier: Eigentlich sollte es Fragen stellen. Aber darin darf es sich nicht erschöpfen, sonst könnte das auch leicht als eine Art Vermeidungstaktik interpretiert werden. Denn es gibt Momente, wo man zu einer eigenen Antwort stehen sollte - auch als Aufforderung zur Diskussion. Nichts ist spannender, als eine Streitkultur in Gang zu setzen, zu reden und gemeinsam weiterzukommen. Das ist doch die Chance von Theater: dass wir uns live begegnen - und uns austauschen können.

 

Gerade im Kinder- und Jugendtheater tut sich viel. Früher gab es kaum mehr als das Weihnachtsmärchen, heute leistet sich fast jedes Haus eine eigene Kinder- und Jugendsparte. Woher kommt diese Entwicklung?

Dethier: Ein Gros der großen Häuser reagierte sicherlich aus der Erkenntnis heraus, dass das Publikum wegstirbt. Aber es gibt Ausnahmen - und der Ingolstädter Intendant Knut Weber gehört dazu. Weil er sowohl in seiner Tübinger als auch in seiner Karlsruher Zeit immer fürs Kinder- und Jugendtheater gekämpft hat - aus inhaltlichen Gründen.

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.

 

Podiumsdiskussion am 24. Januar um 10.30 Uhr im Foyer des Stadttheaters Ingolstadt. Teilnehmer sind neben Brigitte Dethier auch Torsten Meyer, Professor für Kunst und ihre Didaktik, Wolfgang Schneider, Vorsitzender der ASSITEJ Deutschland, und Azadeh Sharifi vom Internationalen Theaterinstitut ITI.