Stratford-upon-Avon
Wer war Shakespeare?

22.04.2014 | Stand 02.12.2020, 22:47 Uhr

 

Stratford-upon-Avon (DK) William Shakespeare hat uns mit Othello, Hamlet, Shylock, Richard III. oder Prospero die abgründigsten Theaterfiguren der Weltliteratur hinterlassen. Und die ergreifendsten Liebesgeschichten.

Wikipedia weiß von 420 Verfilmungen, allein 75 von Hamlet und mehr als 50 von Romeo und Julia. Seine Person jedoch gibt uns Rätsel auf, weil die biografischen Zeugnisse so mager sind, dass sich Theorien aller Art gebildet haben. Kann der Sohn des Handschuhmachers tatsächlich über eine solch umfassende Bildung verfügt haben? Oder war Shakespeare nicht doch das Pseudonym eines hochgestellten Adligen? Der Autor und Dramaturg Kurt Kreiler ist sich sicher: Der Dichter William Shakespeare hat nichts zu tun mit dem Schauspieler und Geldverleiher William Shakespere aus Stratford-upon-Avon. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Aristokrat Edward de Vere, Earl of Oxford, der am Hofe von Queen Elizabeth I. ein- und ausging. Was also feiern wir, wenn wir dieser Tage den 450. Geburtstag von William Shakespeare begehen

Herr Kreiler, die Frage nach der Autorenschaft Shakespeares gilt als eines der letzten großen Rätsel der Menschheitsgeschichte. Nach Ihrer These steckt Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford, hinter dem Werk.

Kurt Kreiler: Die These stammt von Thomas Looney, einem englischen Schullehrer, der sie 1920 erstmals veröffentlichte und bei Sigmund Freud damit auf große Zustimmung stieß. Aber innerhalb der Wissenschaft konnte sie sich nicht durchsetzen, weil sie zu schwach begründet war. Leider kamen dann viele Hobbyforscher ins Spiel, die behaupteten, dass der Earl alles Mögliche aus seiner Biografie in seinen Stücken verwendete, doch vieles davon war sehr fraglich. Und so wurde die Behauptung immer unwahrscheinlicher statt wahrscheinlicher. Andererseits fand man auch neue Indizien. Ich bin Literaturwissenschaftler, habe am Theater gearbeitet und bringe gewisse Voraussetzungen mit, um philologisch und historisch arbeiten zu können. Ich übersetzte die frühen Gedichte des Earl of Oxford, um zu spüren, ob sie Shakespear’sche Substanz besitzen und ob die behaupteten Parallelen zu Shakespeares Werk sich verifizieren lassen. Ich bin überzeugt, dass Edward de Vere als eigentlicher Autor hinter Shakespeares Werk steckt.

 

Was war dieser Earl für ein Mensch?

Kreiler: Er war sehr selbstbewusst, sehr energisch, kunstsinnig, als Mäzen berühmt. Er war ein vorbildlicher Edelmann in dem Sinn, wie ihn Castiglione in seinem „Il Libro del Cortegiano“ skizziert und idealisiert hat. Das war auch ein Leitbild in der englischen Renaissance.

 

Aber warum hat er sich mit Shakespeare einen „literarischen Strohmann“ gesucht?

Kreiler: Oxford hat sich keinen Strohmann gesucht. Diese Sache kam erst nach dem Tod von Shakspere und Shakespeare zustande. Der Mann aus Stratford hieß Will Shaksper(e). Er war Anteilhaber am Globe, Kaufmann, Geldverleiher. Ein Mensch, der sich in der Nähe des Theaters aufgehalten und mit dem Theater Geld verdient hat. Vielleicht hat er auch als Schauspieler kleine Rollen übernommen. Der andere ist ein Autor, der sich Shake-speare, also „Speerschwinger“, nannte, bezogen auf die Speerträgerin Pallas Athene, die Göttin der Wissenschaft und Künste. Und dieses Pseudonym tauchte auf, bevor Will Shakspere überhaupt nach London kam. Es war nicht das Anliegen des höfischen Autors Edward de Vere, sich hinter einem bürgerlichen Strohmann zu verstecken.

 

Aber wie kam es dann zu dieser Verwechslung?

Kreiler: Die eigentliche Verwechslung wurde erst nach dem Tod der beiden in Szene gesetzt: 1604 starb Edward de Vere, 1616 Will Shakspere. Sieben Jahre später finanzierten Angehörige des Earl of Oxford die große Folio-Ausgabe, und gleichzeitig finanzierte ein Unbekannter ein sehr teures Grabmal in Stratford, um es diesem zweiten Shakespere zuzuschreiben. Denn die Familie wollte nicht, dass man den Namen De Vere mit dem Pseudonym Shake-speare identifiziert, aufgrund der Veröffentlichung der Sonette. Soweit meine Forschungen.

 

Warum benötigte Edward de Vere überhaupt ein Pseudonym?

Kreiler: Zunächst einmal: Die englische Hofgesellschaft duldete nicht, dass ein Aristokrat unter seinem Namen Literatur veröffentlichte. Das war erst posthum möglich. Ein zweiter Grund für das Pseudonym war, dass es dem Autor die Freiheit gab, auch über Zeitgenossen zu schreiben. Etwa über seinen Schwiegervater Lord Burghley, der als Polonius durch „Hamlet“ geistert. Es gibt eine ganze Reihe von zeithistorischen Figuren, die man in den Stücken erkennen kann. Bei Hof hat man die Anspielungen verstanden und darüber gelacht, aber nur wenige bürgerliche Zeitgenossen kannten die Identität Shake-speares.

 

Was entgegnen Sie Kritikern, die einwenden, dass Werke wie „Der Sturm“ oder das „Wintermärchen“ erst nach dem Tod des Earl of Oxford (1604) entstanden?

Kreiler: Wir kennen das Datum der ersten Aufführung. Aber das ist kein Indiz dafür, wann das Werk tatsächlich entstanden ist. Die Aussagen über Schiffbruch und das Elmsfeuer sind keine wörtlichen Zitate aus einer Veröffentlichung nach 1604, sondern gehen zurück auf Ovid, Vergil, Erasmus von Rotterdam u. a. Dafür gibt es Stücke wie „Der Kaufmann von Venedig“, woraus Zeitgenossen bereits Ende der 1570er Jahre zitiert haben.

 

Beschäftigen Sie sich immer noch mit Shakespeares Werk?

Kreiler: Ich habe eine englische Website erarbeitet, die unter www.anonymus-shake-speare.com Texte der Zeitgenossen in einer modernisierten Schreibweise veröffentlicht, kommentiert und Querverweise gibt. So entsteht ein Gefüge, das zusammen mit den frühen Texten des Earl of Oxford ein sprechendes Bild von ihm entwirft. Und ich plane, die Shakespear’schen Sonette in Gänze neu zu übersetzen und zu kommentieren. Ich hoffe, die Übersetzung erscheint in zwei Jahren, dann gibt es ein nächstes Shakespeare-Jubiläum – den 400. Todestag. Auch wenn es nicht meinen Mann betrifft. (Er lacht.)

 

Welches Shakespeare-Werk ist für Sie das wichtigste?

Kreiler: Ich will drei nennen: „Hamlet“, „King Lear“ und „Wie es euch gefällt“.

 

„Hamlet“ steht kommende Saison in Ingolstadt auf dem Spielplan. Was fasziniert Sie daran?

Kreiler: Es ist eine brillante Sinn- und Wesenserkundung. Ein Nachdenken über die Stellung des Menschen im Kosmos – zwischen Himmel und Erde, zwischen Geburt und Tod. „Hamlet“ ist ein Freiheitsstück, ein Liebesstück, es zeigt ein Spiel im Spiel. Es schöpft alle Möglichkeiten der Verstellung, des Spiels und der Selbsterkenntnis aus.

 

Es passt inhaltlich also gut zu Ihrer These.

Kreiler: Warum zweifelt man seit 150 Jahren an Will Shakspere? Doch wohl deshalb, weil wir keine Belege dafür haben, dass seine Zeitgenossen ihn als Autor gesehen haben. Aber die Zeitgenossen, die über Shakespeare und sein Werk geschrieben haben, beschreiben ihn völlig anders als den Bürger Shakspere. Und auch die historischen und wissensmäßigen Voraussetzungen stimmen mit denen des Mannes aus Stratford-upon-Avon nicht überein. Wie hätte sich der Sohn eines Handschuhmachers diese teuren Bücher in Französisch, Italienisch, Spanisch aneignen können? Wie hätte er, der kaum mehr als die Elementarschule besucht hat, all diese Sprachen sprechen können? Das passt nicht, deshalb wurde und wird gezweifelt.

 

Gesetzt, Sie hätten die Möglichkeit, Edward de Vere zu treffen. Was würden Sie ihn fragen?

Kreiler: Ich würde gern wissen, ob er wirklich gewollt hätte, dass man ihn seines Namens beraubt. Oder ob er nicht eher erwartet hätte, dass man nach seinem Tod das Pseudonym lüftet.

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.

 

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand, Insel-Verlag

Kurt Kreiler: Edward de Vere, Earl of Oxford, Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt, Hundert Gedichte, Insel-Verlag