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Steinernes Wüstenmeer oder schlüssiges Konzept?

28.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:52 Uhr

Transparenz statt Gemütlichkeit: Große Fenster sollen Einblick gewähren und gute Bedingungen für den Bürger und die kommunale Verwaltung bieten. So die Idee des Architektentrios Anne Beer, Sebastian Dellinger und Felix Bembé. Die "Walking-Talking-Girls" aus Wettstetten, so etwas wie das Sprachrohr der Bevölkerung, hätten gerne noch einen Brunnen oder ein Café gehabt. - Fotos: Borgmann/oh

Für den einen ist die "neue Ortsmitte" in Wettstetten im Kreis Eichstätt Anlass zu verhaltener Skepsis, andere überschütten das Ensemble mit Lob und Preisen. Architektur im Zwiespalt. Architektur als Streitpunkt. Eine Annäherung.

Noch ein Preis! Oder: Schon wieder ein Preis? Die Wettstettener können es kaum glauben. Ihre "neue Ortsmitte" von Bembé Dellinger Architekten und Stadtplaner (fertiggestellt 2013) erhält immer wieder Auszeichnungen. Darunter auch die renommierte "Nike für Komposition", vergeben vom Bund Deutscher Architekten. Jubel darüber bricht vor allem im Rathaus aus. Vielleicht noch bei Architekturinteressierten. Bei vielen Einwohnern trifft die mehrfache Krönung eher auf Unverständnis. Wie unterschiedlich Architektur beurteilt wird, zeigt sich hier einmal mehr.

 

Die kommunale Mitte

 

Die Kluften zeichnen sich schon beim Namen ab. Was auf dem Papier als "neue Ortsmitte" bezeichnet wird, heißt im Volksmund schlicht "das neue Rathaus". Der Architekt Sebastian Dellinger selbst nennt den Komplex im Gespräch "kommunale Mitte". Aber eigentlich ist es auch völlig egal, wie das heißt, was nun in dem Ort mit 5000 Einwohnern im Landkreis Eichstätt entstanden ist. Zu sehen sind - und darin werden sich wohl alle einig sein - drei Gebäude, die sich äußerlich ähneln, in ihrer Nutzung dafür umso mehr unterscheiden: Eine Art Bürgerzentrum mit Bürger-, Sitzungs- und Trausaal wird im Osten von einem Verwaltungsbau und im Westen von einem Gebäude mit sozialen Funktionen (Tagesstätte für demenzkranke Menschen sowie Kinderkrippe mit gemeinsamem Garten) flankiert. Diese drei Häuser umschließen einen kleinen Platz, der den Blick auf die Pfarrkirche St. Martin im Süden frei gibt. Wie hier nimmt das Gebäude an vielen Stellen und auf unterschiedliche Weise Kontakt zum Alten auf.

 

Lob und Kritik

 

Doch die Bezüge zum Ortskern offenbaren sich nicht gleich jedem. Kritik wird laut. Öffentlich formuliert wird sie von einer Faschingstruppe, den "Walking-Talking-Girls", schon seit Baubeginn 2012. Die fünf quirligen Damen bringen seit Jahren auf hohem Niveau und treffsicher aufs Parkett, was die Dorfbewohner bewegt - und dazu gehört eindeutig das neue Rathaus. In ihren kabarettistischen Einlagen bezeichneten sie es gar als "steinernes Wüstenmeer" ohne jede "Gemütlichkeit". Sie träumten von einem "Bankerl", einem "Brunnen" auf dem Platz und "vielleicht noch einem Café" im Ensemble. Aber der Gemeinderat hatte das Raumprogramm anders bestimmt und sich bewusst für die "Nutzungsmischung" ohne Kommerz entschieden. Der Grund ist nachvollziehbar: Die Gemeinde, damals unter Bürgermeister Hans Mödl, der das Projekt federführend geleitet hat, wollte den vorhandenen Gaststätten keine Konkurrenz machen. Ausgerechnet das, was den Bürgern fehlt, begrüßen die Fachleute. Die Jury der "Nike" beispielsweise lobt ausdrücklich die "Verquickung gemeinschaftlicher und karitativer Aspekte", durch die ein öffentlicher Raum entstehe, "der sich nicht durch kommerzielle Reize stärken muss". Dellinger vermutet sogar, dass mit den Preisen nicht Architektur, sondern vor allem die Bauaufgabe gewürdigt wird.

 

Eine Frage des Geschmacks?

 

Aber in Wettstetten leben eben nicht die Jurymitglieder, sondern die Wettstettener. Die Diskrepanz zwischen den Urteilen der Fachwelt und denen der Bürger ist keine Seltenheit. Der Grund wird meist in den unterschiedlichen Geschmäckern gesehen, und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Das mag stimmen. Aber vielleicht geht es gar nicht ausschließlich um Geschmack. Vielleicht ist es in der Architektur wie in der Liebe: Es gibt Liebe auf den ersten Blick; es gibt sie aber auch auf den zweiten. Doch die entdeckt nur, wer offen ist und zuhört. Voraussetzung hierfür ist, dass das Gegenüber etwas zu erzählen hat. Reden wir noch von Architektur? Ja. Architektur hat etwas zu erzählen. Auch die "neue Ortsmitte" Wettstetten.

 

Die dörfliche Struktur als Maßstab

 

Ihre Geschichte beginnt mit drei Häusern: einer Schreinerei, dem Wohnhaus eines Bauernhofes sowie einer alten Schule. Sie standen sich einst gegenüber, wie es nun die Gebäude der "neuen Ortsmitte" tun. Nur waren die beiden Betriebe - Schreinerei und Hof - längst aufgegeben und traurige Relikte vergangener Zeit. 2012 blieb nur noch ihr Abriss (wie auch einem weiteren Wohnhaus einen Straßenzug weiter). Diesem Schicksal entkam einzig die ehemalige Schule. Obgleich in den Nachkriegsjahren längst ein zeitgemäßer Ersatz am nördlichen Ortsrand geschaffen worden war, diente sie, einer Umnutzung sei Dank, dem Dorf als Rathaus. Doch die beliebte Gemeinde in unmittelbarer Nähe zu Audi wurde immer größer. Das rasante Wachstum stellte das Rathaus vor echte Platzprobleme, die immer eklatanter wurden. Vor jeder Trauung musste der Bürgermeister seinen Schreibtisch räumen, um eben dort den offiziellen Festakt der Eheschließung feiern zu können. Gemeinderatssitzungen wurden aus Mangel an einem Sitzungssaal auswärts organisiert. Unter diesen und anderen Umständen reifte der Traum von einem modernen, großzügigen Rathaus, das seinen Einwohnern wie Mitarbeitern ausreichend Raum böte. Und das möglichst dort, wo es sich bereits bewährt hatte: mitten im Ort und gegenüber der Kirche. Ganz klassisch.

In weiser Voraussicht waren die beiden benachbarten Anwesen, die erwähnte Schreinerei sowie der Hof, bereits von der Gemeinde gekauft worden. Schnell war entschieden, dass sich auch der neue Komplex aus drei Gebäuden zusammensetzen sollte. Diese Idee ist wohl nur als Verbundenheit zur alten Dorfstruktur zu interpretieren: Die vorhandene Kleinteiligkeit und sogar einige Gebäudefluchten sollten aufgegriffen und damit fortgesetzt werden. Nicht auszudenken, welch erdrückende Wirkung an dieser Stelle ein Solitär gehabt hätte. Der dörfliche Maßstab wäre gesprengt worden, und das Angebot für öffentlichen Raum auf eine Größe angewachsen, die für einen kleinen Ort nicht bespielbar gewesen wäre.

 

Vorbildliche Voraussetzungen durch den Gemeinderat

 

Die Kernpunkte des Programms wurden vom Gemeinderat und unter der Leitung des Architekten Eberhard von Angerer während einer Klausurtagung festgelegt. Eberhard von Angerer lobt die Vorgehensweise ausdrücklich und nennt sie "vorbildlich für andere Gemeinden". Von Angerer organisierte auch den Architektur-Wettbewerb und war für die Freiraumgestaltung der Plätze verantwortlich.

 

Das Raumprogramm - praktisch und visionär

 

"Doch wozu der ganze Platz nur", fragte sich mancher Einwohner, denn für ein schlichtes Rathaus hätte es doch wohl kaum dreier Grundstücke bedurft. Das stimmt, aber das Raumprogramm wurde im städtebaulichen Sinne um einige Nutzungen erweitert. In erster Linie mussten die notwendigen Verwaltungsräume untergebracht werden. Ebenso logisch erschließt sich der Wille um eine Erweiterung des bisher schmerzlich vermissten Trau- sowie Sitzungssaals. Neu war der Gedanke, eine Tagespflege für demenzkranke, alte Menschen in die neue Ortsmitte zu integrieren - ein Bekenntnis zu dieser Generation, die nach Meinung der Verantwortlichen sowohl räumlich als auch im übertragenen Sinne in die Mitte des Ortes gehört. Und genau hier sah Bürgermeister Mödl auch den richtigen Platz für einen "Bürgersaal". Obwohl die konkrete Nutzung im ersten Moment der Planung noch gar nicht klar war, erweist gerade er sich im Leben der Wettstettener immer mehr als Dreh- und Angelpunkt der neuen Ortsmitte, ja als Hand des neuen "Rathauses", die sich wohlwollend dem Bürger entgegenstreckt, um sich mit den neuen Mauern zu identifizieren. Denn hier kommt plötzlich "Leben in die Bude" - dem gerade etablierten und überaus beliebten Kulturprogramm sei Dank. Umgesetzt hat es Mödls Nachfolger Gerd Risch. Ein facettenreiches Kulturprogramm lockt die Menschen in die Räume hinein. Mensch und Raum nähern sich an. Ganz im Sinne Dellingers, der behauptet, "Architektur ist eine Bühne". Sie müsse von den Bürgern bespielt werden. Das wird sie. Und kaum ist dem so, ebbt die Kritik langsam ab. Das geben auch die Damen vom Fasching gerne zu: "Seitdem wir das Programm besuchen, freunden wir uns immer mehr mit dem Rathaus an." So ist das Kulturprogramm eine Art Integrationsprogramm für die drei "Neuen" im Ort. Und siehe da, sie sind gar nicht so anders!

 

Die Jurahaustypologie als Vorbild

 

Voller Stolz schaut die Region auf ihre Tradition des Jurahauses. Das definiert sich über seine klare kubische Form aus großen Maueranteilen mit unregelmäßigen Fenstern, einem flach geneigten Satteldach und wenig Dachüberstand. Und genau deshalb wurden diese Elemente in der neuen Ortsmitte aufgegriffen. Natürlich nicht eins zu eins. Denn immerhin handelt es sich hier um einen repräsentativen Bau des 21. Jahrhunderts - einen Bau für die Öffentlichkeit, für die Wettstettener. Diese Aufgabe rechtfertigt oder erfordert bei aller Bescheidenheit eine gewisse Andersartigkeit. Was wäre das für ein Rathaus, wenn es den Zeitgeist nicht aufnähme, was für ein Armutszeugnis für die Gemeinde, wenn sie hier ein pures Bekenntnis zur Tradition abgeben würde. Eine Gemeinde muss leben und ihren Blick nach vorne richten. Ein neues Rathaus kommt einem politischen Statement gleich. Und die Architektur muss diese Botschaft vermitteln. Das tut sie, indem sie das Alte und das Neue innovativ verknüpft. Vielleicht erschließt sich das nicht auf den ersten Blick, aber die Hoffnung ruht auf dem zweiten.

Die drei Bauten in Wettstetten sind massiv. Große Wandflächen tragen ein flach geneigtes Satteldach ohne Dachüberstand. Unbestritten sind hier die bautypologischen Analogien zum Jurahaus. Die groß dimensionierten Fenster beeinträchtigen diese Wirkung nicht. Der Maueranteil überwiegt deutlich. Um diese Wirkung zu verstärken, wurden manche Fenster mit Gittermauerwerk versehen. Was nach außen verschlossen, beinah geheimnisvoll wirkt, birgt im inneren hohe Qualitäten. Wie ein Sichtschutz verhindert die Fassade den Einblick, nicht aber den Ausblick. Aufenthaltsräume und manche Büros profitieren von dieser introvertierten Anlage. Der Nutzer kann sich zurückziehen. Im Gegensatz dazu stehen die Räume mit den "Schaufenstern", wie sie von den Damen vom Fasching bezeichnet und bemängelt wurden. Doch eigentlich trifft diese Definition den Kern: Natürlich wird hier etwas zur Schau gestellt - es handelt sich nur nicht um Ware, sondern um die Arbeit der Verwaltung. Die Fenster signalisieren nichts anderes als Transparenz und Offenheit. Sie sagen: "Schau nur, sieh, was hier passiert, es gibt nichts zu verbergen!" Und nicht weniger sagen die großen gläsernen Türen aus. "Herzlich Willkommen", rufen dem Besucher die breiten Flügel entgegen. Sie sind als Einladung zu verstehen.

Dem gleichen Grundgedanken folgt das Innenraumkonzept. Die Türen sind auffällig groß und massiv. "Es sind Türen, die wichtige Räume ankündigen, Räume des Konzils, deshalb haben wir sie bewusst offen und groß gehalten", erläutert Dellinger. Das wertvolle Material unterstreicht ihre Wichtigkeit. Im Mittelpunkt der Architektur steht immer der Bürger. Ihm und keinem anderen sollen diese Räume dienen. Hier sollen die von ihm gewählten Vertreter unter möglichst guten Bedingungen die bestmöglichen Beschlüsse treffen. Das ist der Hauptgedanke, der diese Architektur trägt. Es ist ein durch und durch der Demokratie verpflichtetes Gesamtkonzept.

 

Bühne frei

 

So weit die Geschichte der "neuen Ortsmitte" - zumindest eine Version davon. Wer aufmerksam zuhört, mag noch eine andere vernehmen. Der zweite Blick lohnt sich. Möglicherweise verändert sich dadurch die Wahrnehmung. Vielleicht wachsen Verständnis und Wohlwollen. Was nicht heißt, dass nicht weiter gestritten werden darf - beispielsweise über das geschlämmte Ziegelmauerwerk. Das habe in Wettstetten kein Vorbild, heißt es. Der Architekt argumentiert: "Alles andere hätte zu städtisch gewirkt." Der bayerischen Dorfarchitektur folgend, sei das Ensemble "steinern und einfach" gehalten worden. Für Unmut sorgen auch die fehlende Garderobe im Bürgersaal, der schwarze Sonnenschutz oder die Fenster hinter dem Gittermauerwerk. Ausgerechnet der Architekt gewinnt der Kritik etwas Positives ab. Sie sei ein Zeichen für die Auseinandersetzung der Bürger mit der Architektur. Dellinger sieht darin gestalterisches Potenzial und motiviert die Menschen, die "neue Ortsmitte" als Grundlage für weitere Veränderung zu nehmen: "Das ist erlaubt, das Rathaus ist etwas Initiales."