Sie
Lernen, sich sicher zu fühlen

Eine junge Jesidin berichtet über ihren Leidensweg während der IS-Gefangenschaft

03.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:14 Uhr

Sie war jung, klug und gern mal etwas vorlaut. Sie wollte Jura studieren. Und vielleicht den angehenden Lehrer Telim heiraten. Da überfielen IS-Terroristen ihr Dorf Hardan im Nordirak nahe der syrischen Grenze. Shirin, damals 17, wurde entführt, misshandelt, verkauft und als Sex-Sklavin gehalten. Auf abenteuerliche Weise gelang ihr die Flucht.

Jetzt ist die junge Kurdin jesidischen Glaubens 19 Jahre alt, lebt in Deutschland und berichtet unter dem Pseudonym "Shirin" über ihren Leidensweg und den ihrer Schicksalsgenossinnen. "Ich bleibe eine Tochter des Lichts", heißt das Buch, in dem sie, aufgeschrieben von der Journalistin Alexandra Cavelius, ihre Geschichte erzählt.

3. August 2014, gegen 7 Uhr. "Wir waren so blind, wir haben die Gefahr nicht erkannt", schreibt sie über diesen Tag, der das Leben ihrer Familie und der anderen Jesiden im Sindschar-Gebiet zerstörte. Zu spät brachen sie zur Flucht auf, das Dorf war eingekesselt - es gab kein Entrinnen. Zusammen mit mehreren Hundert anderen Frauen und Kindern werden Shirin, ihre Mutter, der jüngere Bruder und die beiden Schwestern verschleppt.

Shirin wird von ihnen getrennt, als Sklavin verkauft, gequält und immer wieder zu Sex gezwungen. "Erst nach zwei Monaten haben sie ihre Masken abgenommen. Da haben wir in die Gesichter all unserer arabischen Nachbarn geblickt", schreibt sie. Ein Selbstmordversuch. Eine Abtreibung. Mit neun Männern wird sie in diesen Monaten "verheiratet". Der letzte verhilft ihr zur Flucht.

Mehr als 7000 Frauen und Kinder gerieten nach dem Massaker in IS-Geiselhaft, rund 2500 kamen dem Zentralrat der Jesiden in Deutschland zufolge bislang frei. Die Schicksale ähneln dem Shirins. "Mädchen gelten ab sieben Jahren als vollwertige Frau", sagt Holger Geisler vom Zentralrat. Männer werden ermordet, Jungen zu IS-Kämpfern gemacht, Mädchen verkauft und vergewaltigt. Shirin kam nach Deutschland. Baden-Württemberg hat ein Projekt gestartet, um bis zu tausend schutzbedürftige Frauen und Kinder aufzunehmen und zu behandeln.

Der Trauma-Experte Jan Kizilhan betreut Shirin und andere Frauen. Er kommentiert das Buch, liefert Hintergründe. Immer wieder reist er in den Nordirak, kümmert sich um Opfer. "Hinter den Vergewaltigungen steckt eine perfide Strategie der IS-Milizen. Streng konservativ organisierte Teile der Jesiden sehen den Verlust der Jungfräulichkeit der jungen Mädchen als Entehrung für sie und die gesamte Familie. (...) Erschwerend dazu kommt, dass die Männer den Eindruck haben, beim Beschützen ihrer Familie versagt zu haben." Vergewaltigung als Mittel der Kriegsführung.

Shirins Familie, so weit am Leben, wäre in Gefahr, wenn ihre Identität bekannt würde. Und Shirin, das Jurastudium, vielleicht in Deutschland? "Ich traue es mir nicht wirklich zu." Rechtsanwaltsgehilfin lautet ihr Ziel. "Ich würde gern den Führerschein machen und Auto fahren." Busse mag sie nicht. In Bussen wurden sie und ihre Schicksalsgenossinnen verschleppt. Hier in Deutschland muss sie lernen, sich sicher zu fühlen. Sie sehnt sich nach dem Brot ihrer Heimat, schwärmt gemeinsam mit ihrer Dolmetscherin davon. Heimweh. Aber der IS hat die Heimat zerstört, Hardan zum Unort gemacht. ‹Œdpa

Shirin mit Alexandra Cavelius: Ich bleibe eine Tochter des Lichts. Meine Flucht aus den Fängen der IS-Terroristen. Europa-Verlag, 368 Seiten, 18,99 Euro.