Salzburg
Mozart verbessern

Teodor Currentzis dirigiert und Peter Sellars inszeniert die Oper "La Clemenza di Tito" bei den Salzburger Festspielen

31.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:42 Uhr

Salzburg (DK) Die letzte Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, "La Clemenza di Tito", ist ein problematisches Werk. Inmitten von Meisterwerken wie dem Requiem, der "Zauberflöte" und dem Klarinettenkonzert komponiert, entstand es unter extremem Zeitdruck als stilistisch bereits überholte Opera seria in nur drei Wochen.

"Tito" ist das einzige große Spätwerk Mozarts, das nur selten bespielt wird. Man muss viel Vertrauen in diese Musik legen, um das Stück auf die Bühne zu bringen. In Salzburg besaßen Dirigent Teodor Currentzis und Regisseur Peter Sellars dieses Vertrauen nicht. Sie taten vielmehr alles, um das Musikdrama zu verändern, umzuschreiben. Sie wollten es besser machen als Mozart und Metastasio. Und sie schrammten dabei nur unwesentlich an der Gefahr vorbei, den Stoff hoffnungslos zu vergewaltigen. Man kann es aber auch so sehen, dass Currentzis und Sellars, der Mozart-Oper eine Chance gegeben haben. Dass sie "Tito" spielbar machten.

Die Eingriffe sind immens. Während Currentzis die Ouvertüre freischwingend wie ein Rezitativ gestaltet, hochdramatisch, bis in die kleinste Note erschütternd expressiv, lässt Sellars die Geschichte in einem palästinensischen Flüchtlingslager beginnen. Titus, der großmütige Herrscher eines schwarzafrikanischen Landes, adoptiert ein Geschwisterpaar, Sesto und Servilia. Der revolutionäre Geist schwirrt den beiden weiterhin im Kopf herum. Am Ende zetteln sie einen Terroranschlag gegen ihren Kaiser und Wohltäter an, dem Tito am Ende erliegt. Das ist nicht die Geschichte, die Mozart und Metastasio erzählen, bei der das Mordopfer verwechselt wird und Tito überlebt. Aber man könnte die neue Story als Verbesserung durchgehen lassen.

Die Anstrengungen für dieses Konzept sind gewaltig, es knirscht manchmal im dramaturgischen Gefüge. Vor allem geht die Mozart-Oper nun nicht mehr mit einem uneingeschränkten Happy End ins Finale. Um das traurige Ende des Stücks glaubwürdig zu machen, erweitern Sellars und Currentzis die Oper um einzelne Sätze aus Mozarts c-Moll-Messe, der "Maurischen Trauermusik" und dem "Adagio und Fuge c-Moll".

Sellars inszeniert auf der fast nackten Bühne der Felsenreitschule. Leuchtende Plexiglas-Stehlen, die aus dem Boden wachsen, markieren den Designer-Schick der Herrschenden, glühende, zerschmolzene Steine die verbrannte Stadt (Bühne: George Tsypin). Der Rest ist Schauspielkunst. Die Sänger tanzen und tändeln, rennen und gestikulieren - ein hochartifizielles Bewegungstheater. Das ist schön und mitreißend anzusehen. Und doch erschließt sich auch in dieser Fassung kaum der Sinn dieser Oper, trotz all der Anspielungen auf Terroranschläge der Gegenwart, auf die Versöhnungsrituale der Politik und auf den großmütigen Politiker Nelson Mandela. Zu vieles wird nur nach Lektüre des Programmhefts plausibel.

Da hat es die Musik leichter. Teodor Currentzis hat beim phänomenalen Abschlusskonzert bei den Audi-Sommerkonzerten bereits gezeigt, wie wunderbar er Chorsätze von Mozart-Oratorien dirigieren kann. Die Passagen aus der c-Moll-Messe zählen zu den besten Momenten der Produktion. Was für ein betörender Klang, wenn Currentzis den zweiten Akt nach der Pause mit dem "Kyrie eleison" (Herr erbarme dich) eröffnet. Wenn sich aus den Chormassen als einzelne Stimme das vibratolose, unendlich sanfte, traurige Timbre von Jeanine De Bique erhebt, der Darstellerin des Annio. Kann man das überhaupt noch schöner, trauriger und erhebender deuten? Oder am Ende die maurische Trauermusik, die mit unendlicher Langsamkeit dahinschwelgt? Anders als in Ingolstadt geht Currentzis bei "Tito" noch radikaler vor. Genauso wie Peter Sellars glaubt er weniger an eine Interpretation der Mozart-Oper als an eine Neuerschaffung. Seine Sicht hat kaum noch etwas mit historisch informiertem Klang zu tun. Dem griechischen Dirigenten, der wieder mit seinem Ensemble MusicAeterna aus Perm arbeitet, kommt es oft allein auf den Effekt an. Die Originalklang-Attitüde ist nichts als ein Aushängeschild.

Und doch grenzt es an Genialität, was da unerhört frisch und neuartig über die Rampe strömt, die Intensität des Vortrags, die aufflammenden Posaunen, das Kanonenknallen während des Terroranschlags, die mit magischer Aura zelebrierten Pausen. Oder wenn er in ein Rezitativ, als wäre es ein Leitmotiv, plötzlich noch einmal die Melodie des Liebesduetts zwischen Servilia und Annio aufleuchten lässt. Das ist Intensitäts-Fanatismus, emotionaler Überdruck bis an die Grenze des Erträglichen.

Und auch die Art, wie Currentzis die Sänger führt, ist außergewöhnlich. Er und Sellars haben meist junge, biegsame Stimmen ausgewählt. Und alle sind sie hervorragend: die eher dramatische Golda Schultz als Vitellia, der lyrische Sopran von Christina Gansch (Servilia), Russel Thomas' viriler Tito.

Aber niemand ist so hinreißend wie Marianne Crebassa als Sesto. Wenn sie im Duett mit dem tanzenden Klarinettisten des Orchesters ihre große Arie im ersten Akt singt, wenn die Koloraturen mit aller Macht aus hier herausströmen, dann ist das einer der großen Augenblicke dieses Opernabends. Und alles Problematische von Oper und Inszenierung perlen auf einmal ab vor dieser übermächtigen Ausdruckskraft.