Salzburg
In der Bürger-Hölle

Uraufführung bei den Salzburger Festspielen: Thomas Adès komponiert "The Exterminating Angel" nach einem Film von Luis Buñuel

29.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:29 Uhr

Salzburg (DK) Wir kennen das ja alle: Man lädt nette Gäste ein, und die wollen und wollen einfach nicht gehen. Dann werden selbst die besten Freunde zur Nervensäge. Natürlich verbietet es die Höflichkeit, sie einfach vor die Tür zu setzen. Und selber gehen kann man auch nicht. Die Konventionen sind so, man kann sich ihnen eigentlich kaum entziehen. Über diese Grundsituation hat der spanische Regisseur Luis Buñuel 1962 einen seiner besten Filme gemacht: "El angel exterminador" ("Der Würgeengel"). Der britische Komponist Thomas Adès (45) hat den Stoff nun unter dem Titel "The Exterminating Angel" auf die Bühne der Salzburger Festspiele gebracht.

Natürlich ist Buñuels Film surrealistisch übersteigert genauso wie die Oper von Adès. Nach einem Opernbesuch treffen sich Künstler und Honoratioren in der Villa von Edmundo Nobile. Man stellt sich vor, es wird geplaudert. Und weil es so normal und zugleich so absurd ist, wiederholt Adès diese Szene des konventionell-leeren Gebrabbels und Begrüßungsgejohles noch einmal, ohne dass die beteiligten Personen überhaupt etwas davon merken. Allmählich läuft der Abend aus dem Ruder. Die Bediensteten des Hauses haben bereits vorher das Haus fluchtartig verlassen, die feine Gesellschaft ist unter sich. Mehr und mehr wird thematisiert, dass man eigentlich jetzt gerne gehen möchte - aber niemand tut es. Die Gäste übernachten auf den Sofas, am Morgen ist kaum mehr etwas zu essen da. Es vergehen Tage, die Gäste verrichten ihre Notdurft im Schrank, die besten Freunde fangen im wahrsten Sinne des Wortes an zu stinken. Ein Wasserrohr wird aufgebrochen, der Dirigent stirbt, ein Liebespaar begeht Selbstmord, manche Gäste beginnen zu halluzinieren, andere prügeln sich. Am Ende werden herumlaufende Schafe im Wohnzimmer geschlachtet und über offenem Feuer gebraten. Nur, aus welchen Gründen auch immer, gelingt es niemandem, die Türschwelle zur Freiheit zu überschreiten.

Diese Schwelle ist dann in der Inszenierung von Tom Cairns (der auch das Libretto verfasste) das bestimmende Element (Bühne: Hildegard Bechtler). Edel, hölzern, poliert, ein riesiges Portal schwebt über dem Geschehen, trennt gelegentlich Innen von Außen, dreht sich immer wieder und bietet verschiedene Perspektiven auf die immer desolatere Situation in der Villa mit den elegant gewandeten Besuchern und dem stilvollen Getue beim Amoklauf der Konventionen.

Die eigentliche Sensation dieser Uraufführung ist die Komposition von Adès. Das ist vielleicht umso erstaunlicher, als Buñuels Film gänzlich ohne Musik auskommt. Was tut die Musik? Was fügt sie diesem überspannten Bürger-Albtraum noch hinzu?

Adès' Musik ist so grell, so drastisch, so humorvoll-hyperaktiv, wie man sich das nur vorstellen kann. Klänge in freier Tonalität, die immer wieder Zitate geschickt einbindet. Ein Strudel der Bezüge. Wenn die Gäste sich an den festlich gedeckten Tisch setzen, erklären, dass sie "Fleisch a point" bevorzugen, wirbelt die Musik plötzlich in einem schrägen Walzer. Wenn sie spüren, dass sie irgendwie eingesperrt sind, dass ihre Bedürfnisse nicht mehr erfüllt werden, formt Adès die Klagen zu einer überspannten Fuge im Dreivierteltakt. Im dritten Akt beginnen die Gäste in ihrer Not, Buchseiten zu verspeisen, und Adès lässt ironisch Töpfe und Schüsseln im Orchestergraben klappern. Das alles schwebt immer im Grenzbereich zwischen bösem Humor und gruseliger Bedrohung. Zwischen den ersten Akten hat Adès eine Art Trauermarsch komponiert, ein ständig monoton anschwellendes Getrommel und Blechbläser-Getöse, ohrenbetäubend, schmetternd, zermalmend.

Und Adès verwendet eine Ondes Martenot, ein Instrument aus der Frühzeit der elektronischen Instrumente, das immer wieder in besonders schauerlichen Momenten von Gruselfilmen der 50er-Jahre Verwendung fand. Fremdartig betörend, gespenstisch wabernd untermalt es besondere Momente: Einen Augenblick der Stille fast unterbricht es mit einem gebrochenen Durakkord, als den Gästen im zweiten Akt wirklich bewusst wird, dass sie gefangen sind. Anfang des dritten Aktes wehrt die Polizei Demonstranten ab, Adès komponierte dazu Musik, die nach Stierkampf-Arena klingt. Später singt eine Mutter ein pervertiertes Wiegenlied mit eisig wimmernder Geigenbegleitung. Das Kind der Mutter ist längst verloren.

Ganz am Ende wiederholt sich plötzlich die Musik des Anfangs, aber diesmal lässt sich die Primadonna Leticia auf einmal dazu herab, eine Arie zu singen. Flirrende Streicher begleiten den komisch-gekünstelten Gesang - und auf einmal überschreiten die Gäste die Türschwelle. Aber das Entsetzen steckt den Gästen noch in den Gliedern. Ganz leise, mittelalterlich wirkende Chormusik ist zu hören, die immer mehr anschwillt, immer dissonanter, schreiender wirkt. Die Menschen laufen herum und stoßen bereits wieder nur an Wände. Welche bittere Schlusspointe: Sie sind nur in ein weiteres Gefängnis getreten.

Für dieses surreale Musikereignis benötigt Adès ein riesiges Orchester, das ORF-Radiosymphonieorchester, das er in Salzburg selber leitet, und 15 Sängerdarsteller. Einen einzelnen Star gibt es nicht, die bourgeoise Gesellschaft selbst ist der Star. Hervorragende Stimmen sind in dieser Parlando-Oper dennoch herauszuhören: der wuchtige Bariton von John Tomlinson etwa, Iestyn Davies' süffiger Countertenor, die zickige Kopfstimme von Audrey Luna als überspannte Primadonna Leticia, Anne Sophie von Otters frei strömender Sopran usw. Ein fantastisches Ensemble, das am Ende vom Publikum im Haus für Mozart gefeiert wird.

Das Ereignis des Abends war allerdings Thomas Adès. Als er vortrat, sprangen die Besucher von den Sitzen und jubelten. Was für ein Erfolg für einen zeitgenössischen Komponisten!