Ingolstadt
Reiche Kulturnation, arme Künstler

18.11.2010 | Stand 03.12.2020, 3:26 Uhr

Carl Spitzwegs "Der arme Poet" hat noch Gültigkeit: Auch heute reicht das Einkommen der Künstler gerade für das Existenzminimum. - Foto: oh

Ingolstadt (DK) Der Kulturbetrieb ist ein wirtschaftliches Schwergewicht. In Deutschland wird von der Kulturwirtschaft ein Umsatz von 131 Milliarden Euro erzielt, und die Branche zählt über eine Million Beschäftigte. Die Kreativwirtschaft ist der drittstärkste Wirtschaftszweig in Deutschland nach dem Maschinenbau und der Automobilindustrie.

Herr Enninger, ist was dran am Mythos der brotlosen Kunst der Künstler?

Jürgen Enninger: Nein, der beschreibt die Situation nicht zutreffend. Etliche Studien belegen, dass die Kreativwirtschaft heute einer der wichtigsten Wirtschaftszweige überhaupt ist, von der Anzahl der Beschäftigten sogar der zweitwichtigste.

Das ist allerdings nur ein Aspekt. Die Künstler selbst sind nach wie vor arm.

Enninger: Ja, aber genau da setzt unsere Initiative an. Wir decken keineswegs den Mantel des Vergessens über diese Probleme. Wir wollen die Künstler, die oft am Existenzminimum leben, so qualifizieren, dass sie davon leben können und vielleicht noch jemanden einstellen können.

Warum wollen immer mehr Menschen Künstler werden, wenn dieses Leben doch finanziell so unattraktiv ist?

Enniger: Darüber kann ich nur spekulieren. Es scheint so, als wenn der Aspekt der kreativen Selbstverwirklichung für viele Menschen immer wichtiger wird. Es ist tatsächlich so, dass es etwa an Kunsthochschulen immer mehr Absolventen gibt. Trotz des demografischen Wandels gibt es hier keinen Fachkräftemangel.

Machen sich die Menschen Illusionen über die Realität des Künstlerlebens?

Enninger: Ich habe das Gefühl, dass die Leute schon sehr genaue Vorstellungen von ihren Problemen haben. Es ist aber so, dass gerade diese Menschen eine innere Notwendigkeit spüren, kreativ zu arbeiten, unabhängig davon, ob das Geld bringt oder nicht. Es fällt auf, dass an den Hochschulen Veranstaltungen zum Thema wirtschaftliche Selbstvermarktung von den Studenten kaum angenommen werden. Gleichzeitig verhalten sich Künstler aber oft extrem ökonomisch rational. Menschen, die immer am Existenzminimum leben, müssen das tun, sie müssen darauf achten, dass sie Geld verdienen, auch wenn sie natürlich den wirtschaftswissenschaftlichen Jargon nicht beherrschen.

Können Sie das genauer erklären?

Enninger: Künstler achten z. B. sehr genau auf Alleinstellungsmerkmale, sie beobachten gewissenhaft Konkurrenten und Mitbewerber. In diesen Zusammenhängen agieren sie sehr professionell und zielgerichtet. Aber mit Fachbegriffen wie "Cashflow" können sie meist kaum etwas anfangen.

Sie bemühen sich, den Künstlern zu helfen, sich besser zu vermarkten. Gleichzeitig aber gibt es bundesweit eine gigantische Rotstiftaktion in den Kulturhaushalten der Kommunen. Wie passt das zusammen?

Enninger: Wir sind natürlich kein Ersatz für die Kulturförderung, sondern ein vermittelndes Angebot zwischen Kultur- und Wirtschaftsförderung. Unser Ziel ist es, Künstlern zu helfen, ihr kreatives Potenzial besser wirtschaftlich zur Geltung zu bringen. Wir führen Orientierungsberatungen durch, die zu Bundes- und Landesprogrammen sowie auf kommunale Förderstrukturen hinführen. Insofern sind wir da unabhängig. Kultur- und Wirtschaftsförderung sind für uns zwei Seiten der gleichen Medaille.

Wie kann man Künstlern denn ganz konkret helfen?

Enninger: Ein wichtiges Thema ist die Fokussierung: Welche Arbeiten sind wirtschaftlich wirklich sinnvoll, welche nicht? Oft haben Künstler auch sehr viele Ideen. Wir versuchen, im Gespräch herauszufinden, welche Konzepte wirtschaftlich wirklich tragfähig sind. Wir versuchen auch, Selbstbewusstsein zu vermitteln. Wir ermutigen, mit künstlerischen Produkten wirklich an den Markt zu gehen. Der Konsum künstlerischer Produkte und deren Vermarktung geschieht oft über Netzwerke. Deren Bildung unterstützen wir.

Gibt es erfolgreiche Modelle für diese Initiative?

Enninger: In Bremen hatten wir zwischen 2000 und 2007 ein Modellprojekt, bei dem die Fokussierung auf tragfähige künstlerische Arbeiten im Vordergrund stand. Dieses Projekt ist sehr erfolgreich verlaufen, die Künstler verfügen jetzt über ein erheblich höheres Einkommen.

Wie reagieren denn die Künstler auf Ihr Angebot?

Enninger: Die Veranstaltung vergangene Woche in Ingolstadt beispielsweise war überfüllt, und der erste Sprechtag am Montag war ausgebucht. Wir haben jetzt einen zweiten Sprechtag anberaumt. Bundesweit haben wir 1300 Orientierungsberatungen durchgeführt, ein Viertel davon in Bayern. Hier ist die Resonanz einfach nur atemberaubend.

Die nächste Sprechstunde zur Kreativwirtschaft findet am 20. Dezember, 9.30 Uhr, im Ingolstädter Kunstverein, Schlossländle 1, statt. Voranmeldung per E-Mail (enninger@rkw.de) ist erforderlich.