Regensburg
Zufallsmomente für die Ewigkeit

Die Ostdeutsche Galerie in Regensburg zeigt eine üppig bestückte Ausstellung von Daniel Spoerri Lovis-Corinth-Preis für den Altmeister

24.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:08 Uhr

Foto: DK

Regensburg (DK) Die Gäste hatten ihren Spaß. Sie haben gespeist, getrunken, geraucht, debattiert, womöglich gestritten, sicher gelacht, sich gut unterhalten oder tiefsinnige Gespräche geführt. Leeres Geschirr, Essensreste, Gläser, Krümel auf der Tischdecke, Weinflaschen, Kaugummipapierchen, leere Zigarettenschachteln und abgebrannte Kerzen sind Zeugnisse dieser Tischgemeinschaft.

Alles, mit Leim fixiert und um 90 Grad gedreht, hängt an der Wand. Daniel Spoerri hat bei seinen spontanen und später arrangierten Banketten den Zufall konserviert, den Moment festgehalten. Ein Stillleben der anderen Art, ein "stillgestelltes Leben". "Fallenbilder" nannte der Erfinder der Eat-Art diese Werke. Die "Falle" schnappte zu, Alltagswirklichkeit war zu Kunst geworden.

Nun wurde der legendäre "Fallensteller" im Kunstforum Ostdeutschen Galerie in Regensburg mit dem Lovis-Corinth-Preis ausgezeichnet. Der 86-Jährige war zur Preisverleihung und zur Eröffnung der mit mehr als 100 Werken üppig bestückten Ausstellung "Daniel Spoerri. Das offene Kunstwerk" angereist. Es ist eine Würdigung eines der letzten noch lebenden Vertretern des Nouveau Réalisme. Und es ist eine Verbeugung vor dem Erfinder einer Edition für multiplizierte Kunst (Edition MAT), vor dem Dichter, Tänzer, Regisseur und Choreografen. Spoerri hat 1968 in Düsseldorf ein Restaurant eröffnet, wo sich die Düsseldorfer Kunstszene - Joseph Beuys, Günther Uecker, André Thomkins und andere aus dem Umfeld der Akademie - traf und ab 1970 in der "Eat Art Gallery" ausstellte. Und Spoerri hat - neben vielem anderen - eine Zeitschrift für konkrete Poesie ("Material") gegründet. Ein Multitalent. Er selbst bezeichnete sich in den Anfängen als "Universaldilettant".

Die vielseitige Schau in der Ostdeutschen Galerie zeigt alle Facetten des komplexen Werks des Kosmopoliten mit den vielen Heimaten. 1942 war der Zwölfjährige mit seiner Mutter als Daniel Isaac Fein-Stein, Sohn eines konvertierten Juden und protestantischen Pfarrers im rumänischen Galati, in die Schweizer Heimat seiner Mutter geflüchtet. Er lebte im Tessin und in Düsseldorf, in Paris und in Zürich, in Griechenland, in München und in der Toskana, wo er bei Seggiano "Il Giardino", einen Skulpturenpark, angelegt hat. Inzwischen ist er in Wien zu Hause. Schon 2009 hat er im nahen Hadersdorf am Kamp ein Kunsthaus - selbstverständlich mit "Eat Art Esslokal" - in einem ehemaligen Klostergebäude eröffnet.

Zu sehen sind in den großzügigen Räumen des Regensburger Museums neben den "Fallenbildern" auch "falsche Fallenbilder", für die er zufällig Gefundenes konstruiert angeordnet hat: Künstlerwerkzeug, Meissner Porzellan. Eine der jüngsten Objekt-Arbeiten dieser Reihe ist "Was bleibt (Ende), Samstag, 27.02.2016": Porzellandeckel, eine Plastikuhr, ein Vogelkäfig, Eiffelturm-Miniaturen und allerlei Krimskrams, alles gefunden auf dem Naschmarkt in Wien.

Originell sind seine "Wortfallen", Objekt-Spielereien mit Sprichwörtern und Redewendungen. Es gibt die neue Serie der "Fadenscheinigen Orakel", gestickte Sinnsprüche, oder raffinierte "Détrompe l'oeil" (Augenenttäuschungs-)Bilder, Salongemälde, verfremdet durch Objekte. Imposant sind die "Prillwitzer Idole", monumentale Bronzeskulpturen, für die sich Spoerri von vermeintlich aus dem 10. Jahrhundert stammenden Miniaturen, die sich als Fälschungen aus dem 18. Jahrhundert entpuppten, inspirieren ließ. Ganz nach Spoerri-Manier aus Fundstücken der Wegwerfgesellschaft.

Seine "Zimtzauberkonserven" kommen heutzutage wie Positionen zur Verschmutzung der Meere daher. Spoerri hat sie 1966/1967 bei einem Aufenthalt auf der kleinen griechischen Insel Symi zusammengestellt. Aus Abfall, aus Knochen, Kuhschwänzen, Schuhen, morschen Tauen. Entstanden sind archaisch anmutende Objekte, die wie Reliquien in Schaukästen präsentiert werden. Die magische Seite der Dinge habe er damals entdeckt, sagte Spoerri über diese Epoche seines Lebens.

Überhaupt: das Sammeln. Mit Leidenschaft und Akribie, mit Spürsinn und Geduld hat der Ausnahmekünstler sich sein Material zusammengesucht, eine immense Fülle an obskuren, sonderbaren, makabren, abstrusen und alltäglichen Stücken: Hutfedern, Kartoffelschäler, Geigen, Peitschen - oder 117 Wasserproben aus legendenumrankten Quellen und Brunnen, die zu einer "Bretonischen Hausapotheke" werden. Spoerri ist auch ethnografischer Feldforscher, und auch Glaube und Aberglaube finden Eingang in seine Werke.

Daniel Spoerri blickt auf ein immenses Lebenswerk zurück - und ist weiter tätig. Stets mit Freude am Grenzgängerischen, am Provozierenden. Stets mit Humor, aber auch einem Hauch Melancholie, dem Vanitas-Gedanken folgend. Er schafft Kunst, die das Publikum unterhält, irritiert, verstört. Es sind Werke, die den Kunstbegriff, die Wahrnehmung und die Selbstverständlichkeit der Dinge infrage stellen. Er selbst fühle sich, hat er einmal gesagt, nicht durch die Realität, sondern "durch den Zweifel an ihr herausgefordert". Auch das eine Botschaft an den Betrachter.