"Pippi Langstrumpf wurde zum Modell des modernen Mädchens"

27.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:15 Uhr

Die Regensburger Literaturwissenschaftlerin Anita Schilcher spricht im Interview über die Wirksamkeit von Rollenklischees.

Welchen Einfluss haben Rollenklischees in Büchern auf junge Leserinnen und Leser?

Anita Schilcher: Grundsätzlich wirken die gesamte mediale Umwelt und das kulturelle Umfeld auf Kinder. Es hängt also davon ab, welche Rollenvorbilder Kinder in ihrer Umgebung kennenlernen und erst in zweiter Linie, welche Medien sie konsumieren. Auch davon, ob und wie intensiv sie lesen. Bei Kindern, die wenig lesen, werden die Bücher nicht viel verändern können.

 

Sind in der Familie vorgeprägte Muster wirksamer?

Schilcher: Grundsätzlich sind die Eltern als Vorbild viel wichtiger als mediale Rollenvorbilder. Allerdings gibt es auch Untersuchungen, die zeigen, dass sich Mädchen mehr zugetraut  haben, wenn sie kurz vorher ein weibliches Rollenbild gezeigt bekamen, das  ihnen nicht zu fremd war, das gleichzeitig z. B. gut in Naturwissenschaften war. Die Mädchen haben sich dagegen weniger zugetraut, wenn sie ein traditionelles weibliches Rollenbild vorgeführt bekamen. Doch diese Studien zeigen nur Kurzzeiteffekte. 

 

Kinder bekommen Bücher meist von Erwachsenen geschenkt …

Schilcher: Ja, natürlich schenken Erwachsene damit auch eigene Lieblingslektüre und überprüfen nicht immer, welche Norm- und Wertvorstellungen in ihnen stecken. Das führt zu Longsellern wie dem „Trotzkopf“, wo ein Mädchen an die bürgerlichen Vorstellungen von Weiblichkeit herangeführt wird.  Aber eines der meistgekauften Bücher in den letzten 50 Jahren ist „Pippi Langstrumpf“, das nicht dem Rollenklischee entspricht. Wobei  Annika dem weiblichen Rollenklischee des braven  Mädchens folgt, Pippi jedoch einen ganz neuen Mädchentypus darstellt, der fast zum Modell des modernen Mädchens in der Kinderliteratur geworden ist. 

 

Sind die Rollenklischees also inzwischen weiter aufgebrochen?

Schilcher: Wir haben aktuell oft diese frechen, aufmüpfigen Mädchen. Aber wenn man genau hinsieht, etwa bei der beliebten „Freche Mädchen – freche Bücher“-Reihe, dann sind die dargestellten Mädchen zwar an der Oberfläche emanzipiert, aber in der Tiefenstruktur funktionieren sie trotzdem noch nach dem Rollenklischee. Dass sie tolle Sportlerinnen und gut in Mathe sind, soll zeigen, dass sie nicht dem Klischee entsprechen, trotzdem warten sie letztendlich doch auf den Traumprinzen, und die meisten Gespräche drehen sich um das Thema Liebe.

 

Wie sieht es für die Buben aus?

Schilcher: Bei den Buben gab es bis Anfang der 2000er Jahre diese sensiblen, einfühlsamen, aber auch oft kranken Jungen, die tatsächlich nicht dem Stereotyp „stark und männlich“ entsprochen haben. Dagegen standen in Filmen Helden wie Arnold Schwarzenegger oder in der Werbung die muskelbepackten, kraftvollen Typen im Vordergrund. Diese Texte kamen zwar bei den erwachsenen Leserinnen und den Mädchen gut an, nicht aber bei den Jungs, weil sie andere Identifikationsfiguren wollen. Inzwischen gibt es  auch für Jungs interessante Rollenmodelle wie etwa „Der kleine Ritter Trenk“. Die neuen Helden sind keine stereotypen Kraftprotze, aber dennoch abenteuerlustig. 

 

Das Interview führte

Barbara Fröhlich.

 

Prof. Dr. Anita Schilcher ist Lehrstuhlinhaberin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Regensburg. Sie ist für ihre Forschung und zahlreichen Publikationen zu Geschlechterrollen und zum Leseverhalten bekannt.