Paris
Zeichnen als Form der Therapie

Vor zwei Jahren hat Catherine Meurisse den Anschlag auf "Charlie Hebdo" überlebt "Die Leichtigkeit" erzählt davon

08.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:49 Uhr

Die Karikaturistin Catherine Meurisse (kleines Foto) entkam dem Terroranschlag auf "Charlie Hebdo" nur, weil sie sich an dem Morgen des 7. Januar 2015 verspätete. Lange suchte sie nach einem Umgang mit der Tragödie und einem neuen Zugang zu ihrem Leben - und schrieb die Graphic Novel "Die Leichtigkeit". - Fotos: Scaglia/Dargaud, Carlsen

Paris (DK) Liebeskummer kann Leben retten. Das mag aufs Erste nicht so recht einleuchten, aber wer in fiebrigen Albträumen das Hin und Her einer hoffnungslosen Seitensprungbeziehung durchspielt, kann leicht verschlafen. Und damit ist dann schon viel Zeit vertan, erst recht, wenn man dazu noch den Bus verpasst. Überlebens-Zeit könnte man sagen. Denn Catherine kommt so spät in die Rue Nicolas Appert im 11. Pariser Arrondissement, dass alles schon vorbei ist. Fast.

Zwei Kollegen halten sie an diesem 7. Januar 2015 zurück, vor wenigen Minuten haben Terroristen die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" überfallen. Elf Menschen werden in diesem ganz realen Albtraum getötet, die Zeichnerin Catherine Meurisse gehört zu den wenigen Überlebenden. Ein Glück ist das nur bedingt, für den Schock fehlen die Worte, fast alle Freunde sind tot, der Liebhaber kneift. Mit wem also reden, heulen, grübeln, schweigen? Sie greift zum Stift, verarbeitet ihr Trauma, und was nun unter dem Titel "Die Leichtigkeit" im Carlsen-Verlag erschienen ist, verblüfft und bezaubert zugleich.

Denn Meurisse hat bei allem Schmerz und einer monatelangen Orientierungslosigkeit weder ihren Humor, noch ihre Fantasie verloren. Doch es braucht Zeit, bis sie sich erinnern kann, Fachleute sprechen von "dissoziativen Störungen", aber gerade diese Suche nach dem Gedächtnis, ihrem Bewusstsein und letztlich dem Ich gerät zur erhellend wilden Reise durch reale und irreale Welten. Das beginnt schon damit, dass Meurisse keinen Schritt mehr tun kann, ohne von "Je suis Charlie"-Bekenntnissen überschwemmt zu werden. "Wenn ihr Charlie seid, wer bin dann ich", reagiert sie entnervt. Und man will die drahtige kleine Comic-Catherine in einer Tour in den Arm knuffen für ihre entwaffnende Offenheit, mit der sie den kollektiven Betroffenheitswahnsinn auseinandernimmt.

Natürlich muss sie raus aus der Beileidszone, dringend sogar, und also begibt sich Madame - da ist sie ganz Französin - just am Urlaubsort Marcel Prousts auf die "Suche nach der verlorenen Zeit". Man trinkt teuren Tee und mümmelt an einer Madeleine ... und gerät doch wieder und wieder in denselben Albtraum: Schüsse, "tak tak tak", die Flucht mit durchlöchertem Körper und dann der Sturz in die Tiefen eines Ozeans, jede Nacht.

Die ewig gleichen Interviews haben Catherine Meurisse auch jetzt fast wieder um den Verstand gebracht. Kurz vor dem Erscheinen ihres Buchs zog sie sich abrupt zurück, und wer will es ihr verdenken? Reden hilft, heißt es, aber reden beschwört auch die alten Erlebnisse ständig aufs Neue herauf. Was haben Sie am 7. Januar gefühlt? Wie geht es Ihnen jetzt? Werden Sie noch von Bodyguards bewacht? Trauen Sie sich auf öffentliche Plätze? Warum haben Sie einen Comic gemalt? Und weshalb sind Sie eigentlich nach Rom gegangen?

All das steht ausführlich in ihrem Buch, genauso die Idee, über die Schönheit zurück ins Leben zu finden. Oder komplizierter: das Stendhal-Syndrom herbeizuführen, also durch die totale kulturelle Reizüberflutung und eine damit einhergehende Verwirrung der Sinne das böse Trauma aus dem Hirn zu drängen. Bei Catherine Meurisse wird die Überdosis römischer Kunst zum ziemlich komischen Trip durch Sammlungen von Märtyrern, Geschundenen, Geopferten und Torsi. Die Kunstgeschichte hat eben nicht nur kakaotrinkende Comtessen parat, und selbst auf Géricaults "Floß der Medusa" im Louvre erscheinen die gemetzelten Freunde aus der Redaktion. Wahrscheinlich ist es am Ende die Selbstironie, der trockene Witz, ihre tief satirische Seele, die der zerbrechlich stabilen Catherine Meurisse geholfen haben. Und das Zeichnen.

"Charlie Hebdo" gehört allerdings in ihre Vergangenheit. Hier hat sie als Studentin mit 25 begonnen, um sich dann zehn Jahre lang im Team mit Cabu, Charb und Wolinski zündende Karikaturen auszudenken. Die Kollegen sind tot, es gibt niemanden mehr, mit dem sich Catherine Meurisse über die Politik amüsieren könnte. Also tut sie das, was ihr schon immer getaugt hat: sich mit Literatur, Kunst und Musik beschäftigen. Wenn das so federleicht und humorvoll ausfällt wie ihre Rückkehr in den Alltag, ist das der richtige Weg.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen-Verlag, Hamburg, 139 Seiten, 19,99 Euro.