Oberried
Kulturgut unter Tage

01.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:34 Uhr

Oberried (DK) Tief in einem Schwarzwald-Stollen ruht das Langzeitgedächtnis der Bundesrepublik: mehr als eine Milliarde Dokumente auf Mikrofilm. Für das Archiv gilt die höchste Sicherheitsstufe.

Irgendwann haben es die Menschen in Oberried dann doch bemerkt. Dass in einem der vielen Stollen ihres Berges seltsame Dinge vor sich gehen. Der Mann sei damals - Ende der 70er-Jahre - aufgeregt in den Gasthof Schützen gerannt und hätte den anderen von seiner beunruhigenden Beobachtung erzählt. Silberne Behälter würden heimlich im Wald angeliefert. Man vermutete alles Schlimme - von Giftfässern bis zum Munitionslager - nur das eine nicht: harmlose Mikrofilme in Edelstahlzylindern.

Seit 1975 lagern im Barbaraá †stollen in Oberried bei Freiburg, der 1907 für das Silberbergwerk im Schauinsland angelegt wurde, mehr als eine Milliarde Dokumente. In 400 Metern Tiefe ruht im Schwarzwald das Langzeitgedächtnis der Bundesrepublik. Mehr als 31 000 Kilometer Filmmaterial - etwa Dreiviertel des Erdumfangs - in rund 1500 122 Kilogramm schweren, rostfreien Edelstahlbehältern. Platz ist für mindestens weitere 700. Als eines der ältesten Dokumente gilt eine Urkunde Karls des Großen für das Kloster St. Emmeram in Regensburg von 794. Es gibt die Krönungsurkunde Ottos des Großen von 936, den Vertrag zum Westfälischen Frieden von 1648, Korrespondenzen von Goethe und Briefe von Franz Kafka. Auch die Lichtbilder des Spielplans der Bayreuther Festspiele aus dem Jahr 1989, die Baupläne des Kölner Doms und die der umstrittenen Startbahn West des Frankfurter Flughafens werden hier auf 35-Millimeter-Dünnfilm gebannt aufbewahrt. Es gibt die Ernennungsurkunde Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler ebenso wie seit ein paar Monaten das Grundgesetz und dessen Entstehungsgeschichte.

"Es ist das Superarchiv", sagt Lothar Porwich vom zuständigen Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn. Der Diplom-Verwaltungswirt, der von seinen Kollegen auch gerne "Mister Barbarastollen" genannt wird, ist ausgewiesener Fachmann für Sicherheit, Aufnahmetechnik, die Filmrollen und für die Fässer, die in einer Klimakammer in München verschlossen werden: "Sie müssen sich das wie beim Einkochen vorstellen", sagt Porwich und wird seinem Ruf als rheinische Frohnatur gerecht. Statt Gummiring schließt aber ein Kupferring den Behälter luftdicht ab. Verschlossen werden sie mit 18 zusätzlichen Schrauben. "So können die Filme hier Kriege und Naturkatastrophen unbeschadet überstehen."

Aber warum gerade hier? Oberried ist beschaulich, wie so viele Orte im Schwarzwald. Es gibt sattgrüne Wiesen, viele glückliche Kühe, Höfe mit tief gezogenen Dächern. Die blauen Vogesen sind nah, der Blick geht in Richtung Rheinebene. Ein Idyll. Ein bombensicheres. Darum ging es dem Bund, als Anfang der 1970er-Jahre ein geeigneter Ort für das Archiv gesucht wurde. Der Kalte Krieg, der Eiserne Vorgang, die Angst vor einem Atomkrieg und dann die Haager Konvention, die seit 1954 den Schutz des Kulturguts eines Landes gewährleisten soll. Also der Barbarastollen: fern von Ballungszentren und Industrieanlagen. "Außerdem ist das Gestein des Berges, Granit und Gneis, wie geschaffen für eine staubsichere, trockene und temperaturbeständige Lagerung", sagt Porwich. 10 Grad bei 70 Prozent Luftfeuchtigkeit.

Überraschend unspektakulär ist der Eingang zum Stollen, der als erdbeben- und einsturzsicher gilt, und am Ende eines holprigen, bergan steigenden Feldwegs hinter einem Gitter liegt. Nur das dreifach angeordnete, blauweiße Schutzzeichen signalisiert: Hier lagert Kulturgut, das unter die höchste Sicherheitsstufe der Unesco fällt. Es ist das einzige Objekt in Deutschland, das diesen Sonderstatus genießt. Es ist der sicherste Ort des Landes. Nur der Vatikan und das Reichsmuseum in Amsterdam genießen einen ähnlichen Schutz. Der Stollen ist auf allen Armeekarten eingezeichnet, seine Umgebung ist Sperrgebiet. Manchmal lösen Mäuse beim Wachdienst und der Polizei einen Fehlalarm aus.

Ebenso überraschend überschaubar ist die Anlage selbst. Nach 400 Metern durch das mit Neonlicht beleuchtete Halbdunkel des Stollens hindurch: zwei schwere, mächtige Drucktüren. Den Zahlencode kennen außer Porwich nur ein paar Wenige. Dahinter zwei mit Beton ausgebaute Seitenflügel, die mit den bierfassähnlichen Behältern eher einem Kühlraum einer Brauerei als einem Archiv für die Nachwelt ähneln.

Und warum Mikrofilme? Angesichts der Digitalisierung mutet das Archiv wie ein Relikt aus längst vergangenen Jahrzehnten an, ein wenig antiquiert. "Ist es nicht", sagt Martin Luchterhandt, Oberarchivrat in Berlin. Im Gegenteil. "Um die Filme lesen zu können, reichen Sonnenlicht und eine Lupe." Digitale Speichermedien bräuchten Geräte, die sie lesbar machen. Und Mikrofilme hätten den entscheidenden Vorteil, dass sie nahezu unbegrenzt haltbar seien. Zurzeit gehe man von 500 Jahren Lebensdauer aus. Überhaupt sei die Archivierung all der digitalen Produkte und Dokumente eine riesige Herausforderung. "Vieles, was durch das Netz schwirrt, ist einfach perdu."

Welche Dokumente um den Faktor 14 verkleinert und im Barbarastollen gelagert werden, ist Ländersache. 75 Mitarbeiter in zwei Bundes- und zwölf Landesarchiven seien damit beschäftigt, erklärt Porwich. "Voraussetzung ist, dass es sich bei allen Dokumenten um Unikate handelt." Wie hilfreich das Archiv auch in der Gegenwart und in Friedenszeiten sein kann, haben die Experten erst vor einigen Jahren erlebt. Beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 konnten sie helfen. Zehn Millionen Einzelaufnahmen waren im Stollen eingelagert. Noch kein Back-up gab es von Dokumenten aus der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek, die 2004 in Flammen aufging.

Lothar Porwich stellt sich vor, dass in ein paar Hundert Jahren Menschen die Fässer finden und den Inhalt entziffern werden. "Man interessiert sich doch immer für die Vorfahren, aus welchem Leben komme ich, wie bin ich entstanden. Diese Neugier wird immer bleiben."