Nürnberg
Zwischen Traum und Trauma

Cervantes' Klassiker "Don Quijote" als Ballett in Nürnberg: Publikum bejubelt Goyo Monteros Gesamtkunstwerk

25.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:15 Uhr

Nürnberg (DK) Ein Gefängnis, eine Irrenanstalt, ein Internierungslager? In wechselndem Zwielicht zwischen wabernden Nebelschwaden: graue, zerlumpte, gebeugte Gestalten. Jede hat ihren eigenen Sack zu tragen, zuckend, ungelenk, geworfen ins Ungefähr der Existenz, in der nichts Geborgenheit bietet, nichts sicher ist - noch nicht einmal die Position der riesigen rohen Rostwand.

Glockengeläut wie Hohn - oder ein erbarmungsvolles Ecce homo. So beginnt die gerade mal 90 Minuten kurze Uraufführung von "Don Quijote" durch das Staatstheater Nürnberg Ballett im dortigen Opernhaus. Nürnbergs Ballettdirektor Goyo Montero ist ein starker Abend gelungen: bildgewaltig, erzählerisch dicht, musikalisch fesselnd, tänzerisch jederzeit überzeugend.

Mit Miguel de Cervantes' gut 400 Jahre altem Epos hat sich Montero wieder einmal eine der ganz großen Gestalten der Weltliteratur vorgenommen: einen Büchernarren, der die Helden und das Ethos seiner geliebten Ritterromane wiederaufleben lassen möchte, indem er zusammen mit dem nur scheinbar naiven "Knappen" Sancho Pansa selbst auf Abenteuerfahrt auszieht. In der Hoffnung, die Liebe seiner - imaginierten - Herzensdame Dulcinea gewinnen zu können, kämpft der sprichwörtliche "Ritter von der traurigen Gestalt" meist wenig ruhmreich gegen Gegner, die eigentlich keine sind - von der Hammelherde bis zu den ebenfalls sprichwörtlichen Windmühlen. Die Grenzen zwischen Fantasie und Realität lösen sich auf. Ist so viel Idealismus schon Wahnsinn?

Folgerichtig siedelt Montero seinen Don Quijote in einer Zeit- und Ortlosigkeit zwischen Traum und Trauma an, erzählt die Geschichte als Spiel im Spiel, inszeniert von Verlorenen, um der Trostlosigkeit der Realität zu entfliehen. Ein Koffer voller Papier wird dabei zur Inspirationsquelle, der Schriftsteller (Oscar Alonso) zum Kofferträger seiner Fantasie, die am Ende stärker ist als er selbst. Den Drahtseilakt zwischen Wahrheit und Illusion symbolisiert ein Äquilibrist (Hiroki Ichinose), dessen Stange kurzerhand zur Ritter-Lanze umfunktioniert wird. Mit ihr wird in einer Art Initiationszeremonie bestimmt, wer den Don Quijote verkörpert, ein dürres fahrbares Lampengestell muss als Ross Rosinante herhalten.

Mit ganz einfachen Mitteln zwingende Bilder zu evozieren - das gelingt Montero mit seinem Team Eva Adler (Bühne), Angelo Alberto (Kostüm) und Olaf Lundt (Licht) an diesem Abend ein ums andere Mal: eine Feier der Imaginationskraft. Etwa, wenn die vermeintlichen Gegner Don Quijotes - Windmühlen, Löwen, Hammel - als Schattenspielschemen erscheinen. Wenn eine schwingende Lampe die gegensätzlichen Charaktere Don Quijote (jederzeit überzeugend: Rachelle Scott) und Sancho Pansa (ebenbürtig: Natsu Sasaki) in einem traumverlorenen Duett vereint. Wenn nächtliche Schreie und Schüsse von Terror und Unterdrückung erzählen, der Orchestergraben zum Meer wird, aus dem die Elenden und Beladenen steigen. Solche Anspielungen an die aktuelle Flüchtlingsthematik hätte es nicht gebraucht, aber sie fügen sich bruchlos in den Abend, dessen düstere Ästhetik ohnehin an Bilderzyklen Francisco Goyas zu gemahnen scheint. Bildertheater statt Tanzstück: Das ist der einzige Vorwurf, den man dem Abend machen könnte, denn in der Tat ist der Tanz nur eines von vielen gleichberechtigten Mitteln zu dem Zweck, die Geschichte zu erzählen. Man könnte positiv aber auch sagen: Gesamtkunstwerk.

Einen starken Anteil daran hat die eigens für diesen Abend kreierte Partitur Owen Beltons: eine so differenzierte wie atmosphärisch dichte Collage aus gesampelten Klangfragmenten, Geräuschen und anrührend einfachen Gitarrenmelodien, die sogar Platz bietet für einen nahezu opernhaften Moment - wenn Iván Delgado als Dulcinea ein sehnsuchtsvolles spanisches Lied über blinde Liebe singt. Und schließlich - zurück in der Anstalt - eine Art Apotheose, vielleicht auch nur ein Fieberwahn. Zum Adagio aus dem 2. Klavierkonzert von Frédéric Chopin hat eine schwebende Glückseligkeit, aller Lasten ledig, das Ensemble ergriffen, das sich schließlich zu einer Art Kollektiv-Pietà um Don Quijote auf seinem Lager aus Säcken versammelt. Und als der Schriftsteller seinen Koffer ein letztes Mal öffnet, entströmt ihm: Licht. Das Publikum im ausverkauften Opernhaus belohnt eine starke Ensembleleistung mit minutenlangem gerechtfertigtem Jubel.

Weitere Vorstellungen im Opernhaus Nürnberg: 28. April, 12., 15., 18., 24., 26., 31. Mai, 2. Juni jeweils 20 Uhr, 20. Mai, 10. Juni jeweils 19.30 Uhr. Karten unter Telefon (01 80) 523 16 00.