Nürnberg
Lust an der Bosheit

Choreograf Goyo Montero beleuchtet in Nürnberg den uralten Mythos von Don Juan neu

23.07.2012 | Stand 03.12.2020, 1:15 Uhr

Sehnsucht nach Erkenntnis: Wie Goethes Faust schreckt auch Goyo Monteros Don Juan – ausgehend von Christoph Willibald Glucks berühmter Ballettkomposition – nicht davor zurück, Himmel und Hölle auf seinem Weg herauszufordern - Foto: Jesús Vallinas

Nürnberg (DK) Größenwahn ist „in“: Studien zufolge sind die Menschen in den letzten 20 Jahren immer narzisstischer geworden. Da kommt Goyo Monteros aktuelle Arbeit über den Archetyp des Frauenverführers Don Juan, jetzt im Rahmen der Internationalen Gluck-Opernfestspiele Nürnberg im dortigen Schauspielhaus uraufgeführt, gerade recht.

Das neue Tanzstück des Nürnberger Balletts zeigt in fesselnden Bildern das Seelengemälde eines Mannes, der vor lauter Bestätigungssucht unfähig zu echter Intimität ist und deshalb reihenweise zerbrochene Frauenseelen am Weg zurücklässt. Ein Typus, der – attraktiv, dominant, leistungsbereit – besonders häufig in der Medienwelt zu finden ist.

Prompt tritt die Mephistopheles-Figur „M.“, die Montero seinem Helden wie einst Goethe seinem Faust als Widerpart an die Seite stellt, zu Beginn mit dem Text des Theaterdirektors aus dem „Faust I“ auf – denn Montero kombiniert auf kongeniale Weise Schauspiel und Tanz, dabei die lange literarische Tradition des Don-Juan-Stoffes mit Texten auch von Tirso de Molina und José Zorrila y Moral zitierend. Und Julia Bartolome als M., die sich Montero vom Nürnberger Schauspielensemble ausgeliehen hat, ist der Star des Abends: Doppelzüngig, mitleidlos und charismatisch gibt sie die virtuose Manipulatorin. So viel vitale Lust an der Bosheit war selten.

Überhaupt zieht sich die Faust-Motivik wie ein roter Faden durch den 100-minütigen Abend: vom Pakt zwischen M. und Don Juan (hier geht es um die Verführung von Ana Baigorri als personifizierter Unschuld Doña Inés) über die Gewissenskrise des Helden angesichts ihrer reinen Liebe bis zur abschließenden Weltgerichtsapotheose. Diese allerdings mündet in eine Fortschreibung des Status quo: „I will survive“ singen Cake zum Schluss, während das Ensemble zeigt, was es kann. Wie ein Feuerwerk spritzen die Bewegungen, der Narzissmus wird überall gefeiert.

Hier zum Schluss gelingt der musikalische Brückenschlag von Alt nach Neu, anderswo weniger: Über weite Strecken arbeitet die Einspielung mit der „Don Juan“-Ballettmusik von Christoph Willibald Gluck und Ausschnitten aus Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“, ergänzt durch Stücke von Arcangelo Corelli und Luigi Boccherini. Mit Tom Waits’ „Temptation“ fabriziert sie zwischendurch einen argen Bruch. Das ist schade, denn die Szenenfolge entwickelt sich ziemlich organisch vom historisierenden Sittenbild zum traum(a)artigen innerseelischen Psychodrama; sinnfällig verräumlicht von der allzeit beschäftigten Bühnenmaschinerie, die mit Drehbühne, Hubpodien, Versenkungen alles gibt (Bühne: Verena Hemmerlein). Einfallsreiche Lichtregie (Olaf Lundt) krönt die immer wirkungsvolle, nie effekthascherische Inszenierung.

Nach dem Prolog, der mit Ruhmsucht und Devotion – Rafael Rivero rezitiert als Don Juan auf Spanisch – die zwei Seiten der narzisstischen Persönlichkeit exponiert, zeigt eine festliche Tanzszene den Verführer am Werk. Weiße Tücher als Symbol weiblicher Unschuld sind Gegenstand kokett-frivolen Spiels der sechs Paare, bis Don Juan in einfallsreichen Arrangements routinemäßig-souverän die Frauen buchstäblich in Serie flachlegt, danach achtlos die Tüchertrophäen beiseite wirft, sich in seiner „negativen Berühmtheit“ sonnend. Doña Ana (Simone Elliott), in roter Corsage und langem Seidenrock (Kostüme: Angelo Alberto), ist die nächste: Keuschheit zeigt sich in Bewegungszurückhaltung, geschmeidig-schlängelnd umgarnt sie Don Juan. Doch selbst die schützenden Tänzerinnen (seelische Verletzlichkeit in knappen weißen Trikots) halten der (gekonnt ästhetisierten) rohen Gewalt des Männerensembles nicht stand.

Schließlich der Fall Doña Inés, M.s Meisterstück raffinierter Verwandlungskunst und Intrige. Warum sich Don Juan in sie dann tatsächlich verliebt, wird nicht nachvollziehbar. Doch Montero braucht diese Wendung, um Don Juan durch Selbstkampf und gestische Zerknirschungsqual schicken zu können. Ein halbdurchsichtiger Käfig wird zum Sinnbild der Seele, in die er niemanden blicken lassen will, und selbst Doña Inés’ Selbstopfer (sie steigt hinein) konfrontiert Don Juan zum Schluss nur wieder mit derselben diabolischen Fratze seines Seins: M. bleibt die Siegerin. Minutenlanger Jubel im ausverkauften Schauspielhaus.

Die nächste Vorstellung am 26. Juli ist ausverkauft. Wiederaufnahme am 30. September.