Nürnberg
Der Hund des Malers

Goyo Montero widmet sich in seiner neuen Ballettproduktion dem berühmtesten Sohn Nürnbergs: Albrecht Dürer

15.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:04 Uhr

Die Rätselhaftigkeit und der Facettenreichtum von Albrecht Dürers Werk bildeten für Goyo Montero einen spannenden Ideenfundus, aus dem er Inspiration für "Dürer's Dog" schöpfte. - Foto: Vallinas

Nürnberg (DK) Den Hasen kennt man, das Rhinozeros vielleicht noch - aber einen Hund? Tatsächlich tauchen in mehreren Werken des Nürnberger Renaissance-Maler-Superstars Albrecht Dürer Hunde auf, belehrt das erhellende Essay des Dürer-Spezialisten Daniel Hess im Programmheft zu "Dürer's Dog", der neuen Produktion des Staatstheater Nürnberg Balletts. Stets am vorderen Rand der Bildbühne platziert, fungieren sie als Brücke zwischen Bild und Betrachter, den ungeheuerlichen Szenen etwa der "Großen Passion" und der prosaischer Alltagswelt der Nürnberger Bürger.

In deren Opernhaus gibt es in dem jetzt uraufgeführten Tanzstück keinen solchen Vermittler - auch wenn Choreograf Goyo Montero in seiner zehnten Spielzeit als Ballettdirektor an sich ganz dürergemäß auf sinnlich-emotionale Überwältigung setzt.

Dräuende Pauken, apokalyptische Glocken, flirrende Minimal Music und abgenudelte Kaufhaus-Klassik aus Lautsprecherbox und Orchestergraben, gigantisch wölkende Vorhänge über zwielichtig-leerer Bühne (Bühne: Eva Adler, Licht: Olaf Lundt), neoexpressionistische Videoprojektionen (Frieder Weiss), unendliches Gewoge scheinbar nackter Leiber (Kostüme: Angelo Alberto) - das kann einem zu viel werden. Und doch: Der Abend öffnet in neun Szenen einen weiten Assoziationsraum von Mittelalter bis Moderne, reiht atemlos vorbeirauschend Bild auf Bild - der vergebliche Wunsch, Vergänglich-Schönes festzuhalten, macht den Betrachter zum Schicksalsgenossen des Künstlers.

Doch dieses Tanzstück will kein genreszenensattes Biopic sein über das "äußere" Leben Dürers. Montero nimmt das Publikum vielmehr mit auf eine Reise durch die imaginierte Innenwelt Dürers - zwischen Farbe und Perspektive, Körper und Raum, Vision und Alptraum, Schöpfergröße und Verzweiflung. Eine rein subjektive Sicht auf den Künstler, die Kunst und das Künstlertum allgemein, inspiriert von Werken und Motiven Dürers: Adam und Eva (Alexander Akapohi, Rachelle Scott), vom gottgleichen Künstler-Schöpfer zum Leben erweckt. Die Schicksalsgöttin Nemesis mit ihrer Kugel, auf der Dürer (Oscar Alonso) balancierend die Hinfälligkeit von Größe, Erfolg und Ruhm erfährt.

Blaues, rotes und grünes Licht hüllt die Tänzer in die intensiven Farben des "Blaurackenflügels" - und erzählt zugleich die Entdeckung der Raumtiefe durch die Renaissance-Maler. Interaktive Projektionen in Holzschnitt-Schwarz-Weiß malen Strahlenkränze um den Protagonisten und zeigen so Selbstermächtigung und -inszenierung des Renaissance-Menschen. Eine rätselhafte blauverschleierte Frauengestalt ist ebenso wenig zu greifen wie die Körper der Tänzer hinter den unzählbaren, halbtransparent-silbergrau hin und her, hoch und runter wallenden Stoffwänden. Malerei ist auch eine Materialschlacht. Mal schaut Dürer zu, wie die anderen wuseln, mal sucht und leidet er selber mit, mal dirigiert er Leiber und Figuren. Das 23-köpfige Ensemble des Staatstheater Nürnberg Balletts agiert zwar (wohl aufgrund des durchweg rasenden Tempos) nicht immer ganz akkurat, wirft sich aber mit immer neuer Verve und Überzeugungskraft in jede Szene.

Fragen und Ungereimtes bleiben dennoch. Dass Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten" in ihrem Versuch, die Natur zu imitieren, zwar dramaturgisch, dank spätbarocker Nicht-Zeitgenossenschaft aber ästhetisch weniger passen, nimmt man hin, umso mehr, als die Bearbeitung von Max Richter geschickt die Grenzen zur Minimal Music verwischt. In Krzysztof Pendereckis Neoromantik und den düsteren Klangcollagen Owen Beltons klingen finstere Mittelalter-Fantasien nach.

Die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Esteban Dominguez-Gonzalvo interpretiert die Live-Partien bis auf wenige Ausnahmen klar und dynamisch, Manuel Kastls Solo-Violine bleibt den Vivaldi-Hits nichts schuldig. Die Choreografie mitunter schon, am heftigsten beim schwebenden Largo aus dem "Winter", zu dem Montero die Traumvision auf dem Holzboden verpoltern lässt. Da scheint ganz unfreiwillig die uralte Spannung zwischen Vision und Wirklichkeit, Wollen und Können auf - die dürfte Dürer, wie jeder aufrichtige Schöpfergeist, ebenfalls gekannt haben.

Das Publikum belohnt den ambitionierten Abend um den nun seit fast 500 Jahren toten Lieblingsnürnberger mit anhaltendem Applaus. So bleiben Künstler lebendig.

Weitere Vorstellungen: 16., 20., 25. und 27. Dezember sowie im Januar. Kartentelefon (01 80) 134 42 76.