Nürnberg
Bildgewaltiger Bühnenmarathon

Spektakuläre Inszenierung von Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" am Staatsschauspiel Nürnberg

04.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:35 Uhr

Die „Kinder der Sonne“: Szene aus der Nürnberger Inszenierung von Sascha Hawemann. - Foto: Bührle

Nürnberg (DK) Nach dreieinhalb Stunden eines bildgewaltigen, überwältigend inszenierten Bühnenmarathons endet die Flucht in die Innerlichkeit in einem Massaker. Und die feine, russische Gesellschaft sucht im Bauch einer riesigen Babuschka Schutz vor dem eindringenden, verelendeten Pöbel, der in die Scheinwelt der Intelligenzija eindringt und ihre heile Welt zerstört.

Sascha Hawemann inszeniert am Staatstheater Nürnberg Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ und verschränkt die (bis vor Kurzem noch recht unbekannte) Tragikomödie des russischen Dramatikers (1868– 1936) mit Szenen aus dessen wohl bekanntestem Stück „Nachtasyl“. Mit diesem Regieeinfall möbelt die effektvolle, actionreiche Inszenierung Gorkis Sittengemälde einer sterbenden Gesellschaft zur kafkaesken Groteske auf.

Die deprimierende Psychopathologie des Figurenarsenals eines weltfremden Pflanzenforschers, eines degenerierten Künstlers, eines depressiven Tierarztes und dreier dekadenter, in Weltschmerz und Langeweile sich ergehender Frauen wird durch den Einbruch zweier Gestalten aus Gorkis „Nachtasyl“ zum „Spiel im Spiel“: Zwei Clowns (Thomas L. Dietz und Philipp Weigand) erheitern mit Slapsticks, Gags und allerlei Klamauk nicht nur die in Melancholie und Selbstmitleid ertrinkende Salongesellschaft auf der Bühne, sondern auch das Publikum im Zuschauerraum.

Mit seinem vor dem Hintergrund der russischen Revolution von 1905 und des „Petersburger Blutsonntags“ entstandenen Stück (1905 uraufgeführt) zielte Gorki auf ein „as-tronomisches Schauspiel“, in dem die „Kinder der Sonne“ wie Planeten um die Sonne kreisen und sich dabei nur um sich selbst drehen, während auf den anderen Planeten die Hölle los ist.

Die Hölle, das sind die anderen, die Armen aus der Unterschicht, die in die Welt der Oberschicht einbrechen. Für die steht der Welt- und Landwirtschaftsverbesserer Pawel, den Stefan Willi Wang als wirren, weltfernen Wissenschaftler spielt, der seine gezüchteten Pflanzen gießt und mit der Obstbaumspritze auch mal seine extravagante, exzentrische Frau Jelena trifft, die Louisa von Spies als leicht einfältiges Luxusweibchen spielt. Daneben Karen Dahmen als liebestolle, dabei reiche Witwe Melanija, die dem immer um Geld für seine Forschung ringenden Pawel nicht nur ihr Geld, sondern auch sich selbst andient; und Pawels depressive Schwester Lisa, die Julia Bartolome zur hysterisch aufgeschrillten Idealistin auf der vergeblichen Suche nach dem Guten im Menschen beziehungsweise nach guten Menschen hochstilisiert.

Als Jona-than-Meese-Verschnitt bringt Julian Keck als Künstler Wagin die Kunst in die Sinnsuche ein, die freilich Stefan Lorch als trinkendes, gewalttätiges und seine Frau fast zu Tode prügelndes Faktotum Jegor auf den Boden der ernüchternden russischen Realität der Zarenaufstände zurückholt. Zwei Welten prallen da aufeinander, was ein transparenter Plastikvorhang überdeutlich symbolisiert (Bühnenbild Wolf Gutjahr), hinter dem eine die Bühne in ganzer Breite füllende Bücherwand sichtbar wird.

Aber dann, nach der Pause, überschlagen sich nicht nur die Ereignisse, sondern auch die Regieeinfälle. Eine Choleraepidemie geht draußen um, die aber eigentlich nur für die Revolution steht, die als blutiger Einbruch des Irrationalen die Welt der „Kinder der Sonne“ verdunkelt: Die Bücherwelt geht in einem vandalischen Bücherchaos unter; die Oberschicht flüchtet sich in einen Castor-Container, um von den Aufständischen nicht kontaminiert zu werden; der bildungselitäre Gutmensch Pawel wird in einer Art Kreuzigungsszene geteert und gefoltert, während der Revolutionsanführer pathetische Menschheitsbeglückungsphrasen ins Megafon brüllt.

Zum Schluss flüchten die „Kinder der Sonne“, die im Licht stehen, vor denen, die man im Dunkeln nicht sieht, ins finstere Innere einer riesigen Babuschkapuppe. Das Volk steht auf, der Sturm bricht los und eine effektvolle, zuweilen aber auch effekthascherische Aufführung, die sich manchmal selbst um ihre eindrucksvolle Wirkung bringt, ist aus. Heftiger Beifall, wohl vor allem für die Darsteller und ein alle Register der Bühnentechnik ziehendes Bühnenbild!

Weitere Vorstellungen: 5., 11., 21., 24., 27. und 30. März; 4., 27. und 30. April; 16. und 23. Mai; 6., 12. und 29. Juni; 3. Juli. Karten unter: Telefon (01 80) 5 23 16 00.