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Ein wildes Orchester aus Tierstimmen

Vor 100 Jahren kam die erste Jazz-Schallplatte auf den Markt In der Original Dixieland Jass Band spielten nur weiße Musiker

24.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:35 Uhr

Initialzündung des Jazz: die Original Dixieland Jass Band. - Foto: Unbekannt

New Orleans (DK) Die fünf eleganten Herren sehen in ihren Fräcken, den gestärkten Hemden und den geschniegelten Frisuren aus wie jede beliebige Kammermusikvereinigung Anfang des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich aber hat die Original Dixieland Jass Band (ODJB) Geschichte geschrieben: Am 26. Februar 1917 trafen sich die Männer im New Yorker Aufnahmestudio der Plattenfirma Victor, um zum ersten Mal in der Geschichte Jazz für die Schallplatte aufzunehmen.

Für die 78-Schellackplatte von 25 Zentimentern Durchmesser wurde der "Livery Stable Blues" und der "Dixieland Jass Band One-Step" ausgewählt. Die Platte war ein Meilenstein der Musikgeschichte, sie verkaufte sich in kurzer Zeit Millionen Mal, der bis dahin wohl größte Hit der Populärmusik, und versetzte dem gerade anbrechenden Zeitalter des Jazz eine Initialzündung. Eine wahre Pioniertat - wenn sie nicht einen unübersehbaren Makel hätte. Denn die fünf Musiker waren weiß. Im Allgemeinen wird aber von Musikhistorikern davon ausgegangen, dass der Jazz der afro-amerikanischen Kultur in New Orleans entsprang.
 
Der Band-Leader und hochbegabte Kornett-Spieler Nick LaRocca (1889-1961) verbreitete bis in die 50er-Jahre, dass er der eigentliche "Erfinder" der Jazz-Musik sei. Der Sohn italienischer Einwanderer behauptete "der Kolumbus der Jazz-Musik" zu sein und erklärte etwa in einem Zeitungsinterview in den 1930er-Jahren: "Mein Standpunkt ist, dass die Schwarzen von den Weißen gelernt haben, diesen Rhythmus und die Musik zu spielen." Noch in den 1950er-Jahren führte er einen Prozess gegen den Posaunisten Tom Brown, der ebenfalls für sich reklamierte, Erfinder des Jazz zu sein. Kein Zweifel: Ein früher Fall von alternativen Fakten.

Tatsächlich schlug die Musik von ODJB ein wie eine Bombe, besonders außerhalb von New Orleans. Anders als der Ragtime, wirkt der Beat schnell und heftig mit wildem Staccato und kontrapunktischen Melodiestimmen. Tierstimmen scheinen zu röhren, das Kornett wimmert, die Bläser spielen sich in Ekstase begleitet vom hektischen Klopfen des Schlagzeugs - eine Musik, die die Welt noch nicht gehört hatte. Sogar Louis Armstrong war begeistert. In seiner Autobiografie "Swing that Music" schrieb er über LaRocca von den "heißesten fünf Stücken, die bis dahin bekannt waren".

Der Streit über die Ursprünge des Jazz ist jedoch ein Missverständnis. Der Jazz entwickelte sich in diesen Jahren in New Orleans explosionsartig, LaRocca war beileibe nicht der einzige Neuerer. Es wurde überall musiziert, allerdings herrschte Rassentrennung in den Musikformationen. So konkurrierten schwarze und weiße Orchester, traten manchmal auch gegeneinander auf den Straßen an. Dabei unterschied sich der weiße Dixieland von der schwarzen Musik: Er wurde schneller gespielt, hatte mehr Akzentuierungen. Und: Es wurde weniger improvisiert. So findet sich auf der ersten Schallplatte von ODJB keine einzige Improvisation.

Die neuen Klänge waren allerdings zunächst namenlos. Denn der Begriff Jass oder Jazz kam erst auf, als es die Musik dazu bereits gab - zunächst 1913 im Sportjournalismus, um das Spiel eines Baseballteams zu charakterisieren. Jass bedeutete so viel wie schwungvoll oder enthusiastisch. Erst 1915 wurde in einem Zeitungsartikel in Chicago der Begriff zur Charakterisierung eines synkopischen Rags von Art Hickman vom Sport in die Musik übertragen.

So war LaRoccas Ensemble ein paar Jahre lang die berühmteste Jazz-Band der Welt. Er machte den Jazz endgültig populär, erfunden aber wurde diese Musik bereits vorher irgendwo und irgendwann auf den Straßen von New Orleans.