Neuburg
Prickelnd – berauschend

19.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:06 Uhr

Bestechende Harmonie: Die Jazzer Joachim Kühn (Piano) und Rolf Kühn spielten in Neuburg Eigenkompositionen - Foto: Christian Wurm

Neuburg/Donau (DK) Kann ein Klavier seinen Pianisten einsaugen? Ihn über die Tasten mit den Saiten umfassen, mit seiner Kraft im schwarz lackierten Korpus ein aufbockendes, brodelndes Eigenleben entfesseln und den Pianisten fast wie den lebendigen Kopf eines Mischwesens aus unbeseelter Materie und schöpferischer Kraft erscheinen lassen?

Wenn der Pianist Joachim Kühn seinen Fantasien am Bösendorfer-Flügel im Neuburger Jazzklub „Birdland“ freien Lauf lässt, hat es zumindest den Anschein dazu. Am Freitagabend stehen der 70-Jährige und sein älterer Bruder Rolf samt dessen Klarinette zu einem der seltenen gemeinsamen Konzerte auf der engen Bühne. Sein schwarzes Holz ist nicht ganz so gefräßig wie das Piano, dafür etwas subtiler und ebenso fesselnd und anspruchsvoll.

Die beiden haben die deutsche Jazzwelt – jeder auf seine Weise, mitunter gemeinsam – wie kaum andere geprägt. Die wenigen Plätze im Jazzkeller sind längst ausverkauft, und die Stille während der Eigenkompositionen wirkt schon fast unheimlich. Die beiden Brüder haben eine eigene musikalische Ausdrucksform gefunden. Natürlich agieren sie gemeinsam und gönnen sich auch ausgiebige Soloparts, doch jeder liefert mit seinem Instrument nur Puzzleteile und Mosaiksteinchen bei. Mal im Wechsel, mal parallel. Doch erst durch das Zusammenfügen der oft kantigen, zumeist nur bruchstückhaften Einzelteile erschaffen sie ein faszinierendes Musikgebilde voller wohlig prickelnder Spannung und bestechender Harmonie.

Doch erst mal ertasten sie mit ihren einzelnen Klängen im Zwiegespräch der Instrumente den Raum gerade so wie einer, der sich mit den Fingern in einem stockdunklen Zimmer vorantastet. Es sind Eigenkompositionen, die den Abend bestimmen und die ihnen viel Raum zur freien Improvisation lassen. „Wir hoffen, dass alles gut geht“, vertraut Rolf dem Publikum an.

Es geht gut. Die zwei Avantgardisten bringen überlappende Harmonien zuwege, wo bisweilen nur rätselbehaftete Fragmente, abgehackte Frequenzen und begonnene Phrasierungen aus den einzelnen Instrumenten kommen. Die Freude der beiden, diese Freiheiten auszureizen, ist spürbar. Für das Publikum ist die Entwicklung ihrer Stücke kaum vorauszusehen, viel zu sehr bauen sie immer wieder überraschende Wendungen und neugierig fragende Reflexionen in ihr Spiel ein. Mit ihren Instrumenten beherrschen sie die hohe Kunst der freien Zwiesprache samt Dissonanzen. Dennoch kommen sie mit bewundernswerter Perfektion gemeinsam auf der Ziellinie an. Sie zeichnen ein Ornament aus den Farben des Klaviers und der Klarinette in den Keller, zu dem die Zuhörer die filigranen Verzweigungen gleichsam wachsen hören. Doch wohin die sich entwickeln, bleibt spannend und ist nicht vorhersehbar.

Beide liefern sich ihren Instrumenten aus, lassen sich förmlich von deren Ausdrucksvielfalt fast bis zur körperlichen Erschöpfung durchdringen. Einzig in der vehement geforderten Zugabe greifen sie auf das Stück eines anderen Komponisten zurück. „Stella by Starlight“ von Viktor Young legen sie nach, bevor die aufflammenden Lichter den Zauber des Abends beenden.