Neuburg
Grigorij Rasputin Suleiman

Wie ein Ingolstädter Cellist sein Publikum in Neuburg in die Irre führt

22.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:46 Uhr

Neuburg (DK) Franz Schuberts Musik zu spielen ist fast immer eine heikle Gratwanderung. Die Melodien sind so überwältigend schön und einfach, dass sie fast wie muntere Volkslieder klingen. Und sie sind doch ganz anders: Ihre Schönheit ist nur Oberfläche, dahinter lauern Katastrophen, unglückliche Liebe, Schmerzen, Niederlagen, Todesverlangen.

Kaum ein Lied vermittelt diesen untergründigen existenziellen Schmerz der ganzen Welt so deutlich wie das Lied "Der Müller und der Bach" aus dem Zyklus "Die schöne Müllerin". Der Bach, der den unglücklich verliebten Müller immerzu begleitet, ist plötzlich ein Ort der Sehnsucht nach dem Tod. Wie spielt man so eine Musik? Und vor allem: Wie spielt man sie ohne Worte, wenn man nur ein Cello zur Verfügung hat?

Der Cellist Alexander Suleiman und der Pianist Vardan Mamikonian eröffneten am Samstag ihr Konzert im Neuburger Schlösschen Hessellohe genau mit diesem Lied. Suleiman entschied sich dabei, nicht auf Melodienseligkeit zu setzen, sondern ganz im Gegenteil, die Zerbrechlichkeit dieser Musik zu betonen, ihre Wehmut, die Unfähigkeit zur rückhaltlos strahlenden Schönheit. Suleiman strich unendlich leise, beinahe zaghaft über die Saiten, ließ die Töne fast ersterben: ein Glückstraum, der sich nicht entfalten will. Und ein Zeichen, mit welch tiefem Verständnis, mit welcher Reife Suleiman heute zu musizieren versteht. Vardan Mamikonian ging diesen Weg mit schier unglaublichem Einfühlungsvermögen mit.

Aber das Duo kann auch ganz anders. Nach drei Schubert-Liedern folgte Beethovens späte C-Dur-Sonate. Auch hier spielte Suleiman die liebliche Andante-Melodie der Einleitung mit geradezu bestürzender Brüchigkeit - fast als wollte er den Verzweiflungs-Stil der Schubert-Lieder noch fortsetzen. Um dann mit stürmischer Brachialgewalt in den Hauptteil des Satzes überzugehen. Auch hier war das Einverständnis der beiden Künstler kaum zu übertreffen. Wo Suleiman stahlhart strahlende Töne aus dem Cello wuchtete, meißelte Mamikonian brutale Oktaven aus der Klaviatur. Ein Gleichklang der Gefühle, wie er kaum zu übertreffen war. Aber mehr noch begeisterte das schiere Übermaß an Nuancen, das diese beiden Künstler aus ihren Instrumenten hervorzuzaubern imstande waren. Allein die dunklen Töne, die Suleiman zu Beginn des langsamen Satzes seinem Instrument entlockte - was für Abgründe, was für ein den Saal erbeben lassendes Vibrato! Unvorstellbare Klanggewalt. Die natürlich besonders packend wirkte, weil das Konzert in einem so überschaubaren Raum stattfand. Man spürte: Genau für solche Säle ist diese Kammermusik komponiert worden, hier passt sie weit besser hin als in die meisten Philharmonien.

Und so ging es weiter mit einem vorwiegend romantischen Programm: die "Fantasiestücke" op. 73 von Robert Schumann hochemotional gestaltet mit gleichermaßen farbig schimmernden Tönen und feurigen Arpeggien im Schlusssatz. Liedhaftes, diesmal allerdings mit glühender Energie ausgespielt von Peter Tschaikowsky (ein Nocturne) und Sergei Rachmaninoff ("Vocalise"); das Scherzo von Johannes Brahms aus der FAE-Sonate: bestürzend kraftvoll und virtuos gestaltet. Und Vardan Mamikonian trug solistisch Tschaikowskys Variationen op. 19, 6 vor - auf höchstem denkbaren Niveau, voller Differenzierungen und delikaten Details. Kein Zweifel, hier spielten die beiden sicherlich besten Instrumentalisten der Region zusammen, die zudem noch ein sehr ähnliches Verständnis vom Stil der Romantik haben. Und die die Werke mit Leidenschaft und Gedankentiefe durchdrungen haben. Besser kann man sie kaum je hören.

Aber es gab auch einen Moment der Irritation - und der witzigen Flunkerei. Denn Suleiman hatte ein Werk des berühmten russischen Wanderpredigers Grigorij Rasputin auf das Programm gesetzt. Nur: Der demagogische Wunderheiler hat überhaupt keine Musik hinterlassen. Und Suleimans Stück klang auch ganz und gar nicht nach einem Werk, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte komponiert werden können. Zu exotisch die fast an chinesische Musik erinnernde Melodik, zu extrem die Effekte (Suleiman sang mit Kopfstimme zum Cello). Und doch: ein Stück mit magischer Intensität, anrührend, fesselnd, fremd wirkend. Keine Frage: Der Cellist Suleiman muss es selbst komponiert haben. Großer Jubel nach dem Konzert für zwei außergewöhnliche Künstler.